Todesmuster
entgegen. Immer noch, bei geöffnetem Fenster. Der Zivi kurvt den Stuhl um den Müll im Flur, stößt mit der Fußplatte an eine Flasche, es fallen alle neune. Die Nasenflügel des Alten beben, die Hände umklammern die Lehne, weiße Knöchel. Seine Augen wandern planlos, kehren immer wieder zu den Flaschen zurück.
»Hier hat er gelebt?« Tonlos, brüchig, mit bebender Erschütterung. Der Zivi sieht den Wink, schiebt ihn langsam ins Schlafzimmer. Das Kinn des Alten zittert, der Kragen schabt am Schildkrötenhals.
»Hier hat er gelebt, Herr Meyer. Nach unseren Unterlagen die letzten vier Jahre.« Durch die Flaschen auf dem Nachttisch zaubert die Sonne grüne Ornamente an die Wand dahinter.
Er hebt kraftlos die Hand, zeigt, greift, ins Leere, lässt sie wieder sinken. »Wo ist es passiert?« Ohne hochzusehen.
»Im Wohnzimmer ist es passiert.« Er schiebt ihn zurück.
»Wo genau?« Jetzt will er ’s aber ganz austrinken.
»Ihr Sohn hat sich an der Decke erhängt. An diesem Haken dort.«
Er sieht hoch mit offenem Mund, die Zunge bewegt sich, kein Laut. Der Blick hängt verzweifelt am Haken für den Lampenschirm, endlos, ganz allmählich schließen sich seine Lider. Zarte Aufforderung, der Zivi bemerkt es trotzdem, schiebt ihn nach draußen in den Hausflur. Das Schloss hakt auch beim Verschließen, er sitzt zusammengesunken, starrt zur Wand. Was fragen?
»Sie hatten keinen Kontakt zu Ihrem Sohn?«
Sein Bewusstsein kommt von weit her.
»Er hat mich besucht. Jeden ersten Sonntag im Monat hat er mich besucht.« Er starrt weiter vor sich hin. »Warum nur? Er hatte keine Frau, sicherlich, da hatte er immer Pech. Aber er hatte eine gute Arbeit.« Wie in Zeitlupe wendet er den Kopf. »Er war Prokurist in der Autobranche, müssen Sie wissen.« In seinem Gesicht schimmert schwach letzter Stolz.
Scheiße. Soll man das dem alten Mann sagen? Er erfährt es ja doch. Aber behutsam.
»Es tut mir sehr Leid, Herr Meyer. Aber Ihr Sohn hatte wohl etwas Pech in den letzten Jahren. Wir konnten ermitteln, dass er seit gut drei Jahren arbeitslos war.«
Sein Gesicht verändert sich nicht. Der hat das nicht verstanden.
»Arbeitslos?« Ohne die Lippen zu bewegen. »Arbeitslos.« Er starrt wieder nach vorn. »Aber das kann nicht sein. Er hat mich doch immer besucht, davon hat er nie etwas gesagt. Und er sah gut aus. Ordentlich.« Der Zweifel gibt ihm noch mal Energie, er fuchtelt mit den Händen, wird ruhiger. Die Spannung entweicht, wie aus einem Ball. Er fällt nach vorn, stützt sich auf den toten Oberschenkeln ab, atmet mühevoll. »Arbeitslos?« Gestöhnt. Oben im Haus plärrt ein Radio, Irgendwas von Collins.
»Darf ich noch einmal hinein.« Nach einer Minute, mit dem letzten Rest Kraft.
»Natürlich.« Der Zivi schiebt ihn durch den Wohnungsflur ins Schlafzimmer. Sein Blick wandert über das Bett, den Wäscheberg in der Ecke, die Schuhe.
»Würden Sie den Schrank für mich öffnen.« Nur gehaucht. Die Rolltür gleitet mühelos zur Seite, auf der Kleiderstange ein einsamer Bügel. Dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd, gestreifte Krawatte. Als sähe er in ein Grab, sein Atem wird heftiger. Vom Fenster ein Windhauch, vertreibt den süßlichen Geruch, für zwei Sekunden.
»Darf ich die Jacke haben?«
»Selbstverständlich.«
Er lässt sie in seinen Schoß gleiten, legt die Hand sanft darauf, wie auf Zerbrechliches. Der Junge braucht keine Aufforderung.
Im Flur toben zwei Kinder die Treppe hoch, zwängen sich am Rollstuhl vorbei. Draußen Sonne.
»Wegen der Wohnungsübergabe nehmen wir noch Kontakt zu Ihnen auf, Herr Meyer. Irgendwann. Das hat Zeit.« Er hört es nicht, der Junge nickt, schiebt ihn auf die Hebebühne, langsam fährt er nach oben. Das Gesicht in der Jacke vergraben, seine Schultern beginnen zu zucken.
Das Handy. Edda.
17 Uhr 22
Der Fahrstuhl ruckt, die rote Eins. Scheiden lassen. Carmen, mach keinen Scheiß! Bloß nicht. So läuft es doch gut. Die Drei. Aber die machte keinen guten Eindruck die letzten Tage. Und Elisabeth? Wie es Ayse wohl geht? Die Fünf. Mal den alten Sener fragen. Sener. Wenn heute bei ihm nichts los ist, könnte man ja mal reingehen. Versöhnung. Ist ja blöd, so. So schlimm war’s auch nicht. Die Sechs.
Vor Ullas Zimmer noch eine Zeugin. Ach, erst zu Edda? In die siebte, diesmal die Treppe. Sie kommt mit Schwung aus ihrem Büro.
»Ah, Cheffe, endlich. Wollen wir zu mir gehen.« Sie dreht sich auf dem Absatz, geht zurück.
»So. Ich habe mich noch einmal mit Frau Korte
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