Todesnacht - Booth, S: Todesnacht - Scared to Live
fiel ihr auf, dass er dazu neigte, die Vergangenheitsform verschiedener Verben so zu betonen, als besäßen sie eine zusätzliche Endsilbe. »Liv- ed « oder »chang- ed «. Sie schob es auf einen Mangel an Gelegenheiten, Konversation mit Englisch-Muttersprachlern zu betreiben. Verständlich war es ebenfalls, da es manchmal tatsächlich eine zusätzliche Silbe gab. Fry fragte sich, ob sie ihn korrigieren sollte oder ob sie ihn damit kränken würde. Sie beschloss, es nicht zu erwähnen, es sei denn, er würde danach fragen. Schließlich war es kein Problem. Eigentlich fand sie es sogar ganz reizvoll.
»War das in der Nähe von Pleven?«, fragte sie. »Nein, ganz im Süden unseres Landes, in der Nähe der Grenze zu Griechenland. Dort sprach niemand Englisch. In der Regel lernen alle Bulgaren Russisch, und einige lernen Deutsch. Aber Englisch spricht außerhalb von Sofia kaum jemand. Ich war froh, dass meine Familie in die Hauptstadt gezogen ist. Sonst würde ich vielleicht noch immer bei den Ziegen leben.« Er legte die Speisekarte beiseite. »Haben Sie sich schon entschieden?«
»Ja, ich glaube schon.«
Kotsev sah quer durch das Restaurant zu dem Kellner hinüber. Das war alles, was er tat, und doch kam der Mann sofort zu ihrem Tisch, um ihre Bestellung entgegenzunehmen.
»Aber es ist gut, wenn man ein bisschen was über seine Familiengeschichte weiß«, sagte er ein paar Minuten später. »Mein Großvater hat in einer Makkaroni-Fabrik gearbeitet. Als wir noch auf dem Land wohnten, hat mein Vater immer von einem Mädchen erzählt, der Tochter eines Juweliers. Ich glaube, er hatte sich früher in sie verliebt, wissen Sie. Aber die beiden hätten niemals heiraten können. Ihre Familie gehörte zur Bourgeoisie in Sofia und lebte im Exil.«
»Zur Bourgeoisie?«
»Ja. Wissen Sie, was das ist?«
»Natürlich.«
Fry hatte den Begriff »Bourgeoisie« lange nicht mehr gehört. Seit ihrer Studentenzeit nicht mehr, als es in Birmingham noch einige altmodische Sozialisten gegeben hatte. Inzwischen klang er ziemlich antiquiert.
»Leider starb meine Mutter, als ich noch sehr klein war«, sagte Kotsev. »Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Nur noch an ihren grünen Schal, in den glitzernde Fäden eingewebt waren. Und ich weiß noch, dass sie wunderschöne Zähne hatte. So weiß wie griechischer Käse, hat mein Vater immer gesagt.«
»Du liebe Güte, was für ein Kompliment ist das denn?«
»Ein einfaches, aber es war ehrlich gemeint.«
Eine Flasche Wein wurde gebracht, und Kotsev wartete, bis der Ober ihnen eingeschenkt hatte.
»Was meinen Vater betrifft«, sagte er, »habe ich aus meiner Kindheit vor allem einen Geruch in Erinnerung – von sowjetischem Aftershave. Ich glaube, es hieß Tachanka .« Er lächelte. »Und Sie, Diane?«
»Ich?«
»Sie sagten, Sie stammen nicht aus dieser ländlichen Gegend.«
»Nein, ich komme aus dem Black Country. Das ist die Gegend von Birmingham. Eine städtische Gegend, in der eine Menge Menschen leben. Über eine Million.«
»Ich verstehe.« Er trank einen Schluck Wein. »Und was ist mit Ihren Eltern?«
»Meine Eltern?«, sagte Fry. »Wie Sie habe ich fast keine Erinnerungen mehr an sie.«
»Keine?«
»Fast keine.«
Kotsev wartete geduldig, bis ihm bewusst wurde, dass sie nichts mehr hinzufügen würde. Als der Kellner zurückkam, aßen sie eine Zeit lang schweigend. Fry nahm an, dass sie ihn
hätte fragen sollen, was er von dem Essen hielt. Doch Essen interessierte sie als Gesprächsthema nicht sonderlich.
»Welche Funktion haben Sie in Pleven genau, Georgi?«
»Oh, Sie möchten über Berufliches sprechen?«, erwiderte er.
»Mich würde interessieren, wie die Brüder Zhivko in unsere derzeitigen Ermittlungen passen könnten. Können Sie mir ein paar Hintergrundinformationen geben?«
»Ah, die Zhivkos – unsere lieben Freunde Anton und Lazar. Die beiden standen in meinem Land unter Verdacht, an einer großen Anzahl von kriminellen Aktivitäten beteiligt zu sein.«
»Ja?«
Kotsevs Lächeln wurde zweifelnd, als er unter ihrem erwartungsvollen Blick zögerte.
»Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, Diane.«
»Nennen Sie mir wenigstens ein paar davon.«
Er nickte. »Tja, wie bereits erwähnt, habe ich einige Zeit mit unseren Kollegen von Europol zusammengearbeitet. Wissen Sie, Bulgarien gehört zwar noch nicht zur Europäischen Union, aber wir arbeiten trotzdem zusammen. Wir schätzen Ihre Erfahrung mit organisiertem Verbrechen. In meinem Land haben sich gerade
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