Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
»Alles verändert sich.« Er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.
»Wie geht es ihr denn, deiner Frau?«
»Gut, soweit ich weiß«, murmelte er. »Ich spreche ab und zu mit ihr. Sie ist sehr zufrieden mit allem. Hat schon das erste Jahr in Kunstgeschichte hinter sich. Spricht ständig von Leuten, die ich noch nie gesehen habe, und scheint viele Kontakte zu haben. Zu den anderen Studenten, die sind viel jünger als sie. Ich begreife nicht, wie sie sich in ihrem Alter noch mal dazu aufraffen konnte. Wir haben es doch so gut hier. Alles läuft in geregelten Bahnen.«
»Warum gehst du nicht einfach auch nach Reykjavík?« Es entstand eine lange Pause. Ari hätte seine Worte am liebsten zurückgenommen, aber die Stille hatte sie bereits geschluckt.
»Was würdest du machen?«, fragte Tómas urplötzlich.
»Ich?« Ari zögerte.
»Ich dachte immer, ich könnte nie von hier wegziehen«, sagte Tómas dann. »Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht sollte ich auch etwas ändern.« Tómas schwieg eine Weile. »Aber vielleicht bin ich auch zu alt dafür. Einen alten Baum verpflanzt man nach so langer Zeit nicht mehr.«
»Du solltest zumindest darüber nachdenken.«
»Mach dir keine Sorgen, Meister. Ich denke ständig darüber nach. Und wenn ich gehe, dann übernimmst du meinen Job. Die Wache wäre bei dir in guten Händen.«
Es war eine verlockende Vorstellung, den nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu machen. Chef zu sein. Beruflichen Erfolg zu haben, wenn das Privatleben schon brachlag.
Doch jetzt, als Tómas diese Möglichkeit laut aussprach, fühlte sich Ari plötzlich von den Bergen eingeengt, wie in seiner ersten Zeit im Norden. Und dabei hatte er gedacht, er hätte das klaustrophobische Gefühl längst überwunden.
Er hatte sich an den kleinen Ort gewöhnt und mochte ihn. Aber konnte er sich wirklich mit der isolierten Lage und den wenigen Menschen abfinden und sich ganz in Siglufjörður niederlassen?
Ísrún brauchte nicht lange, um die Polizeiwache zu finden. Sie parkte vor dem Haus und marschierte mit unerschütterlichem Selbstvertrauen hinein. Das bekam man bei diesem Job automatisch mit dem Kaffee in der Redaktion eingeflößt.
In der Wache war es sehr friedlich. Ein Polizeibeamter hatte Dienst, saß versunken vor dem Computer und schaute nicht auf, obwohl sie die Tür hinter sich zuknallte.
»Guten Tag«, sagte sie. Er rührte sich immer noch nicht.
Sie trat ein paar Schritte näher und sagte noch einmal: »Guten Tag.«
Da hob er endlich den Kopf und zuckte zusammen, als sei er aus einem schlechten Traum erwacht.
Er sah ihr in die Augen – überraschenderweise zog er ihre Augen ihrer Narbe vor –, aber sein Blick war entrückt und leer. Als wäre seine Seele noch im Computer, dachte Ísrún und vergaß dabei, dass sie eigentlich nicht an die Seele des Menschen glaubte. Dafür hatte ihr Psychologiestudium gesorgt.
»Sind Sie wegen der E-Mails hier?«, fragte er mit mechanischer Stimme.
»E-Mails?« Sie verstand überhaupt nichts. »Ich suche einen Mann, der Bullen-Palli genannt wird.«
»Palli?« Endlich schien der Polizist zu sich zu kommen. »Entschuldigen Sie, ich heiße Hlynur. Palli ist nicht mehr bei der Polizei. Schon lange nicht mehr. Solche Spitznamen wird man nur leider hier im Ort so schnell nicht wieder los.«
»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
Hlynur überlegte. »Keine Ahnung. Er heißt Páll Reynisson. Schlagen Sie ihn einfach im Telefonverzeichnis nach. Er hat bestimmt ein Handy.«
Dann wandte er sich von ihr ab, starrte wieder auf den Computerbildschirm und schwieg. Ísrún hielt es für überflüssig, sich von ihm zu verabschieden.
5 . Kapitel
Natürlich hatte Páll Reynisson ein Handy und stimmte einem Treffen mit den folgenden Worten zu: »Ja, ich habe nichts zu verbergen.«
Ein paar Minuten später stand Ísrún vor einem Haus in der Hafnargata, wo er gerade arbeitete. Ein junger Mann mit ziemlich langen Haaren, in Jeans und einem karierten Hemd spähte durch die Kellertür an der Vorderseite des Hauses. Er hatte gerötete Wangen und grüßte sie mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Hallo, ich bin Palli.«
»Ísrún«, sagte sie verhalten.
»Wenn Sie kurz reinkommen, kann ich weiterarbeiten. Ich werde ja nicht fürs Faulenzen bezahlt.«
»Was machen Sie denn gerade?«
»Ich lege neue Stromleitungen. Ein alter Einheimischer hat das Haus aus einem Nachlass gekauft und will es als Sommerhaus nutzen. Da ist er nicht der Erste
Weitere Kostenlose Bücher