Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
weinen, doch es kamen keine Tränen.
Ihr Kopf tat weh. Sie schloss für einen Moment die Augen, versuchte sich zu entspannen und Ruhe zu bewahren. Dann schlug sie panisch die Augen wieder auf, sie durfte kein Risiko eingehen, durfte nicht einschlafen. Sie wusste nicht genau, woher die Kopfschmerzen kamen, wahrscheinlich vom Wassermangel. Der Gestank war inzwischen unerträglich.
Erst hatte sie in der Ecke gesessen, sich angelehnt und versucht, es sich möglichst bequem zu machen, doch nun hatte sie den Platz gewechselt. Sie hatte zu große Angst einzuschlafen, Angst, eine zu bequeme Position einzunehmen.
Vielleicht hatte das ja doch alles einen Sinn.
Sie wusste, dass der Tod näher kam. Sie hatte ein gutes und ehrenhaftes Leben geführt. Jetzt war es wichtig, sich nicht von Angst und Wut überwältigen zu lassen, sie musste an etwas Positives denken. An ihre Familie.
Vielleicht sollte sie sich kurz hinlegen.
Sich entspannen.
7 . Kapitel
Südisland,
ein Jahr vor dem Leichenfund
Die alte Katrín war mir sympathisch. Ich redete mir ein, dass sich etwas von Oma Ísbjörg in ihr bewahrt hatte, bestimmte Angewohnheiten, Ausdrucksweisen oder Charaktereigenschaften. Stellte mir sogar einen Moment lang vor, ich säße hier mit meiner Großmutter und nicht mit dieser fremden Frau aus Landeyjar.
»Kann ich dir denn gar nichts anbieten, mein Kind? Ich backe leider nicht mehr.« Sie schaute auf ihre knochigen Finger und sagte: »Das traue ich mir nicht mehr zu, ich bin so zittrig und schwach geworden. Die Jahre setzen einem zu.«
»Danke, ich möchte nichts.«
»Unsinn! Du siehst so müde aus. Soll ich dir nicht wenigstens ein Glas Milch holen?«
»Das wäre nett«, sagte ich aus Höflichkeit.
Im Haus war es stickig, und alle Heizungen waren aufgedreht, obwohl Sommer war. Ich wurde ganz schläfrig. Vielleicht hatte die Alte recht, ich war müde, mir war sogar ein bisschen übel, und meine Glieder schmerzten. Als sei eine Grippe im Anzug. Ich arbeitete zu viel. Verdammter Journalismus. Natürlich war das verrückt, die viele Schichtarbeit, der ganze Stress.
Katrín ging in die Küche, schlurfte ganz langsam aus dem Raum. Es tat mir leid, dass ich ihr nicht angeboten hatte, die Milch selbst zu holen.
»Möchtest du Milchkekse dazu?«, hörte ich sie aus der Speisekammer rufen, so laut wie ihre alten Stimmbänder es erlaubten.
»Ja, danke!«
Sie kam mit einem Glas Milch in der einen und einer halben Packung Milchkekse in der anderen Hand zurück ins Wohnzimmer, setzte sich dann mit Mühe an den Holztisch und schien bei der Anstrengung regelrecht zu altern. Ihr Gesicht war gezeichnet von all den Jahren, die sie gelebt hatte – und die bestimmt nicht leicht gewesen waren.
»Erinnerst du dich noch an ihr Tagebuch?«, fragte ich so leise, als hätte ich die Frage eigentlich gar nicht laut stellen wollen.
»Was sagst du, mein Liebes?«, fragte Katrín und beugte sich über den Tisch.
Ich hatte die Chance so zu tun, als hätte ich gar nichts gesagt, nutzte sie aber nicht.
»Erinnerst du dich daran, dass Großmutter Tagebuch geführt hat?«, fragte ich lauter und deutlicher.
»Tagebuch, ja. Daran erinnere ich mich. Sie schrieb nicht jeden Tag etwas hinein, so ein Tagebuch war das nicht, aber ich sah sie manchmal etwas notieren, meistens, wenn etwas Besonderes passiert war. Wie zum Beispiel der Vulkanausbruch.«
»Durftest du lesen, was sie geschrieben hatte?«
»Aber nicht doch, nein, das durfte ich nicht. Das war nur für sie selbst bestimmt. Ich habe wohl mal die eine oder andere Seite gesehen, aber das war für andere fast unleserlich, die Buchstaben waren so klein und die Schrift so undeutlich.«
»Hatte sie nur ein Buch, ihr ganzes Leben lang? Oder mehrere?«
»Nur ein Buch, da bin ich mir ziemlich sicher. Sie hat erst als Jugendliche damit angefangen. Und etwa mit zwanzig wieder aufgehört, glaube ich. Ich weiß noch, dass sie es wieder hervorgeholt hat, als sie krank wurde. Ich erzähle dem Buch, wie es mir geht, sagte sie, und jetzt brauche ich es ganz dringend.« Katríns Stimme klang melancholisch.
Sie schaute ins Leere, als reise sie zurück in vergangene Zeiten, und sagte dann: »Ich hoffe, die Milch schmeckt noch. Nicht, dass sie zu alt ist.«
»Sie schmeckt gut, vielen Dank«, sagte ich, obwohl die Milch eindeutig über dem Verfallsdatum war. Sie hätte vielleicht noch im Kaffee getaugt.
»Wo dieses Buch wohl jetzt ist?«, fragte die alte Frau unvermittelt.
»Das ist bestimmt verloren«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher