Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
Detail.
Als ihr endlich klarwurde, um welches Detail es sich handelte, stand sie so abrupt von der Kirchenbank auf, dass es laut polterte, und war froh, dass niemand sie gesehen hatte.
So schnell sie konnte rannte sie die Kirchentreppe hinunter. Sie musste sofort zu Móna, am besten, noch bevor Logi und Jökull nach Hause kamen.
Mitten auf dem Weg klingelte ihr Handy.
Sie blieb stehen und schaute aufs Display.
Eine fremde Nummer.
Dieses Gespräch musste warten.
Kurze Zeit später stand sie auf den Stufen vor Mónas Haustür.
Sie klingelte und musste nicht lange warten.
Móna ließ sie herein und sagte beschämt: »Ich habe schon damit gerechnet, Sie noch mal zu sehen. Ich habe mich verplappert, oder?«
Ísrún nickte.
»Dann ist es wohl am besten, wenn Sie die ganze Wahrheit hören«, sagte sie dann, und es klang, als falle ihr eine schwere Last von der Seele.
15 . Kapitel
Guðrún dachte jeden Tag an Gauti.
Sie arbeitete bei einer großen IT -Firma in Reykjavík. Die Arbeitstage waren lang und anstrengend, aber sie musste trotz des täglichen Stresses immer wieder an ihren Bruder denken – und natürlich an ihre Mutter. Beide waren viel zu früh von ihr gegangen. Sie hatten sich das Leben genommen. Ihr Vater war ebenfalls verstorben, aber schon bevor Gauti sich umgebracht hatte. Der Einzige, der außer ihr noch lebte, war ihr älterer Bruder, doch der hatte seinen Geschwistern nie sonderlich nahegestanden und war einige Jahre älter. Gauti hatte sich immer an Guðrún gewandt, wenn es ihm in der Schule schlecht ergangen war.
Und es war ihm vom ersten Tag an schlecht ergangen. Er hatte nie dazugehört. Guðrún war zwei Jahre jünger als er und hatte nach besten Kräften versucht, ihn zu unterstützen. Doch sie war auch nur ein Kind. Natürlich hätte sie mit ihren Eltern darüber reden können, doch Gauti hatte es ihr streng verboten. Er verstand nicht, dass ihn keine Schuld traf und er nur ein unschuldiges Mobbingopfer war.
Guðrún wusste genau, wer der Schlimmste gewesen war und ihren Bruder seelisch und körperlich am meisten gequält hatte. Sie erinnerte sich gut an Hlynur, dabei wusste er bestimmt nicht, wer sie war. Sie hatte ihn verabscheut, kein Wunder, so grausam wie er manchmal gewesen war. Gauti hatte seiner Schwester nicht alles erzählt, manchmal hatte sie jedoch auf anderen Wegen erfahren, was passiert war. Doch von der Sache im Schwimmbad hatte er ihr erzählt, wie Hlynur ihn immer wieder unter Wasser gedrückt hatte, fast in jeder Stunde, und ihm stets dasselbe zugeflüstert hatte:
Als Nächstes zeige ich dir, wie man stirbt.
Diese Worte hatten sie verfolgt und ihr Albträume bereitet, obwohl sie die Quälereien nicht mitansehen, geschweige denn am eigenen Leib erfahren musste wie ihr Bruder.
Der hatte ihr anvertraut, dass er immer damit rechnete, dass Hlynur seine Drohung in der nächsten Schwimmstunde wahrmachen und ihn so lange unter Wasser tauchen würde, bis alles vorbei wäre.
Gauti war von Natur aus sensibel gewesen. Zerbrechlich. Doch Hlynur hatte ihn nicht mit einem Schlag ausgelöscht, sondern ganz allmählich.
Es überraschte niemanden, dass Gauti weit davon entfernt war, das Gymnasium abzuschließen. Schon im ersten Jahr gab er auf und zog sich in seine Schale zurück. Dabei hatte er das erste Mal die Chance, noch einmal ganz von vorne anzufangen – auf einer neuen Schule, ohne Hlynur –, doch er schaffte es nicht. Der Schaden war bereits geschehen.
Gauti zog nie von zu Hause aus, aber Guðrún zog zu Beginn des Studiums zu ihrem Freund, woraufhin sich Gautis Zustand rapide verschlechterte, bis er einfach aufgab.
Hlynur traf die alleinige Schuld. Er hätte an jenem Tag genauso gut zu Gauti gehen und ihn umbringen können.
Guðrún hatte nicht sofort etwas unternommen, ihr Hass hatte sich aufgestaut.
Hlynur hatte das Leben ihres Bruders und das Leben ihrer Familie systematisch zerstört.
Sie wusste, dass Gauti nicht sein einziges Opfer gewesen war, aber zweifellos derjenige, der am meisten unter dem Druck gelitten hatte.
Gautis Selbstmord war ihrer Mutter sehr nahegegangen. Sie war davon überzeugt gewesen, auf gewisse Weise schuld daran zu sein, was natürlich absurd war. Guðrún hatte versucht, ihr das klarzumachen, war jedoch auf taube Ohren gestoßen.
Dann hatte auch ihre Mutter aufgegeben.
Wieder traf Hlynur die Schuld daran.
Guðrún hatte versucht, ihren Hass zu zügeln und sich nicht mit Hlynur auf eine Stufe zu stellen. Das war lange Zeit
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