Todesnacht: Thriller (German Edition)
eine Art Fluchtburg zur Verfügung gestellt, in der Hoffnung, der junge, talentierte Schriftsteller würde hier genügend Zeit und Raum finden, um seinen ersten Roman zu beenden, ohne ständig mit der abschätzigen Haltung seiner engeren Familienmitglieder konfrontiert zu sein, die den Sommer in der deutlich eleganteren Umgebung von Northeast Harbor an der Küste verbrachten. Sie alle waren ohne Ausnahme der Ansicht, dass Sams Traum von einem Schriftstellerleben nichts weiter war als eine große Torheit.
Und so kam Sam in diesem Sommer nach Machias, um bei Großtante Julia in Roque Bluffs seinen ersten Roman fertigzustellen. Was er vermutlich auch getan hätte, wäre er nicht am Freitag vor dem Nationalfeiertag in Ed Kaplans Eisenwarenhandlung gekommen, um sich eine Brandungsrute zu besorgen, und hätte dort die groß gewachsene, wunderschöne, achtzehn Jahre alte Tochter des Ladenbesitzers kennengelernt. Von da an waren die ohnehin geringen Chancen auf eine produktive Schriftstellertätigkeit schnell gen null geschrumpft.
Statt sich auf das Buch zu konzentrieren, verbrachte er die überwiegende Zeit mit Tagträumen von Emily. Und an den meisten Abenden kam Emily, sobald sie mit der Arbeit fertig war, zu ihm nach Roque Bluffs. Oftmals war Maggie mit dabei, und dann saßen sie am Strand ums Feuer, rauchten Julias Gras oder tranken ihren teuren französischen Champagner. Julia mit ihren einundachtzig Jahren lebte immer noch im Haus und schien von beidem einen unerschöpflichen Vorrat zu haben.
Wenn Em und Sam alleine sein wollten – und dieser Zeitpunkt kam an jedem Abend irgendwann –, spazierte Maggie zu der Scheune, die Julia als Atelier diente. Julia lud sie dann jedes Mal zu noch mehr Gras oder Champagner ein und erzählte, während sie an ihrer Staffelei stand und arbeitete, Geschichten aus ihrem Leben als Künstlerin und Verstoßene.
» Ich habe dieses Häuschen 1934 gebaut « , sagte sie, » als Sommerquartier für mich und meine Freundin Zanie Theobold. Zanie und ich waren in Northeast Harbor nicht willkommen. Dort haben mein Bruder – er war Sams Großvater – und unsere ganzen Cousins und Cousinen immer den Sommer verbracht. In der sogenannten Familienresidenz. Obwohl … Ich glaube, so nannten sie es erst, nachdem Jack Kennedy Präsident geworden war. Wenn die Kennedys eine Residenz besaßen, dann wollten die Harknesses verdammt noch mal ebenfalls eine Residenz besitzen. Na ja, jedenfalls sind Zanie und ich zusammen hier hoch ins Washington County geflüchtet, weil wir dachten, dass sich kein Harkness jemals hierherwagen würde. «
» Warum wart ihr denn dort unten nicht willkommen? «
» Na ja, zum einen war ich Malerin und Zanie Dichterin, und meine Familie betrachtete alles, was auch nur ansatzweise mit Kunst zu tun hatte, mit äußerstem Misstrauen. Und zum anderen haben Zanie und ich eine, wie man damals zu sagen pflegte, Bostoner Ehe geführt. «
» Ihr wart lesbisch? «
» Waren wir. Sind wir. Werden wir immer sein. Zanie ist zwar mittlerweile nicht mehr am Leben, also schätze ich mal, dass sie rein theoretisch keine Lesbe mehr ist. Ich glaube nicht, dass man Toten eine sexuelle Orientierung zuschreiben kann. Die meisten Körperstudien im Haus und hier in der Scheune zeigen Zanie in unterschiedlichen Phasen unseres gemeinsamen Lebens. Du siehst, sie hatte deine Figur. Einen wundervollen Körper, bis zum Schluss. Sie ist viel zu jung gestorben. «
» Wie alt war sie denn? «
» Siebenundfünfzig. Eines Tages auf dem Heimweg von ihrer üblichen Morgenrunde am Meer ist sie einfach umgekippt. Herzinfarkt. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu kommen konnte. «
Maggie betrachtete die Bilder. Ein Dutzend schmückte die Wände, und viele weitere Dutzend standen im Atelier herum oder stapelten sich auf dem Dachboden. Impressionistische Akte einer großen, kantigen Frau mit schmalen Hüften und kleinen Brüsten. Sie habe sich schon immer gefragt, sagte Maggie, wer das Modell gewesen sei, und dass sie die Bilder wunderschön finde.
Julia freute sich, dass Maggie ihre Arbeiten gefielen. Maggie freute sich, dass sie der alten Frau eine Freude hatte machen können. Aus irgendeinem Grund schien ihr das wichtig zu sein.
Letztendlich war dies wahrscheinlich der ausschlaggebende Grund dafür gewesen, dass sie sich auch dazu bereit erklärt hatte, Modell zu stehen. Dies – und die zwanzig Dollar pro Stunde, die Julia ihr dafür zahlte. Zwanzig Dollar waren mehr als das Dreifache dessen, was sie als
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