Todesopfer
Stapel Bücher, der säuberlich auf einer Seite des Tisches lag.
Das oberste Buch fiel mir ins Auge, weil ich den Autor kannte. Wilkie Collins, las ich und dachte an Richards spöttische Bemerkung,
dass Wilkie Collins für eine zurückgebliebene Leserin wie mich genau das Richtige sei oder so ähnlich. Die Frau in WeiÃ. Ich hätte es für Danas Einschlaflektüre gehalten und nicht weiter beachtet, nur dass es nicht neben ihrem Bett lag und sie mehrere Seiten mit kleinen gelben Klebezetteln markiert hatte. Ich griff nach dem Buch.
Darunter lag Shetland Folklore von James R. Nicholson auf dem Stapel. Wieder waren einige Seiten mit Klebezetteln versehen. Dann fand ich noch British Folklore, Myths and Legends von Marc Alexander. Der Titel des Buchs ganz unten im Stapel war mir vertraut, obgleich ich noch nie eine Ausgabe davon gesehen hatte. Ich schlug den Buchdeckel auf und sah, dass es sich um ein Büchereibuch handelte; nach dem auf die Karte gestempelten Rückgabedatum war es erst vor kurzem ausgeliehen worden. Es handelte sich um Shetland Traditional Lore von Jessie Saxby, jenes Buch, auf das ich in Richards Arbeitszimmer etliche Querverweise gefunden hatte. Dana hatte sich meine Bemerkungen über hiesige Kulte zu Herzen genommen. In dem Buch klebten eine Menge gelber Zettelchen. Ich setzte mich aufs Bett und begann zu lesen.
Die erste Geschichte, die Dana aufgefallen war, handelte von der makabren Entdeckung einer groÃen Anzahl menschlicher Gebeine bei Bauarbeiten in Balta. Die Anwohner hatten etwas von einer alten Begräbnisstätte gemurmelt, doch die Knochen (die alle von Erwachsenen stammten) waren in keinerlei Ordnung aufgefunden worden, sondern einfach zusammengeworfen. Man hatte keine Spur von irgendwelchen Gedenksteinen entdeckt. Auf den dazugehörigen Klebezetteln stand: Weibliche Gebeine? Geschichte wahr? Datum feststellbar?
Auf einer Seite ein Stück weiter hinten las ich etwas über einen Felsen, der sich in der Nähe von Papa Stour aus dem Meer erhebt und in dieser Gegend als Frow Stack oder Jungfraueneiland bekannt ist. Zu der Zeit, als Mrs. Saxby ihr Buch verfasste, konnte man auf dem Felsen die Ãberreste eines Gebäudes ausmachen. Ein Gerücht, das dort umging, besagte, dass der Frow Stack als Gefängnis für Frauen diente, die sich »unziemlich betragen«
hatten. Einen anderen Felsen, den Maiden Stack mit einer ganz ähnlichen Geschichte, konnte man auf der Ostseite der Shetlands finden. Danas Anmerkungen lauteten: Inselgeschichten von eingekerkerten Frauen. Wurden auf einem der Felsen menschliche Ãberreste gefunden?
Ein paar Seiten weiter war sie auf eine andere Geschichte über unorthodoxe Gräber gestoÃen: eine groÃe Anzahl kleiner Hügel auf der Insel Yell. Der ganze Hügel war den dortigen Ãberlieferungen zufolge mit Gräbern bedeckt, und die Menschen mieden diesen Ort. Danas Kommentar lieà auf wachsende Ungeduld schlieÃen. Wann?, hatte sie geschrieben. Dana war auf Tatsachen und Beweise aus gewesen, echte Hinweise, denen sie mit akribischer Polizeiarbeit nachgehen konnte. Jessie Saxby hatte lediglich Geschichten zu bieten. Allerdings interessante Geschichten. Wenn Jessie recht hatte, waren auf diesen Inseln mehrmals verborgene und ungeweihte Massengrabstätten entdeckt worden. Ich fragte mich, wie viele es wohl noch gebe. Und ich war mit jeder Minute mehr davon überzeugt, dass Melissa nicht allein in meinem Grund und Boden gelegen hatte.
Jegliches Zeitgefühl kam mir abhanden, als ich weiterlas und mehr und mehr über die seltsame und manchmal auch entsetzliche Historie der Inseln erfuhr. Eine Geschichte, die ich besonders beklemmend fand, handelte von einem jungen Mann, der eines Tages auf Fischfang auszog und seine Frau und sein neugeborenes Kind in der Obhut einer alten Frau aus dem Dorf zurücklieÃ. Nachdem sie ihre Schutzbefohlenen vernachlässigt hatte, um sich im Hause einer Nachbarin an Tee und dem neuesten Klatsch gütlich zu tun, kehrte die Alte in der Abenddämmerung zu Mutter und Kind zurück und sah, wie ein grau gekleideter Mann das Haus verlieÃ. Als sie hineinstürzte, fand sie anstelle des Kindes und der Wöchnerin »einen toten Wechselbalg« und »einen Geist, der vor Schmerz völlig von Sinnen war« vor. Die Trows hatten sowohl die Mutter als auch das Kind geholt und an ihrer statt Ebenbilder zurückgelassen.
Stundenlang saà das Gespenst
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