Todesopfer
gegen den Bootsrumpf, wie das Schlagwerk einer gigantischen Uhr, das die Sekunden zählte. Der Bug hob und senkte sich, und Gischt spritzte wie eine immer wieder unterbrochene und sehr kalte Dusche übers Deck. Es war extrem ungemütlich, und ich wusste, je länger ich blieb, wo ich war, desto kälter und steifer würde ich werden. Wann würde Duncan handeln? Ich stand auf. Das Kabinendach war glitschig von Seewasser, und ich packte die Reling, ehe ich mich aufs Deck hinuntergleiten lieÃ. Der Rucksack
auf meinem Rücken behinderte mich. Ich zog ihn herunter und machte ihn an einer Klampe fest. Dann griff ich hinein. Ich fand, was ich suchte, und steckte es in die vordere Tasche meines Ãlzeugs.
Dann nahm Richard Fahrt weg, und das Boot wurde um etliche Knoten langsamer. Wir fuhren nach Süden; Tronal lag ungefähr zweihundert Meter entfernt an Steuerbord, und um uns herum ragten bedrohlich riesige, dunkle Silhouetten auf. Ich hatte mich noch nie so weit östlich von den Inseln aufgehalten, und wusste nicht, dass man genau hier einige der ältesten Felsen der ganzen Shetlands finden kann. Granitsäulen, Ãberbleibsel der majestätischen Klippen, die sich hier vor Hunderten von Jahren einmal erhoben hatten. Manche türmten sich zu Bogen und Monolithen auf, andere kauerten tief im Wasser wie bösartige Tiere, zum Sprung bereit. Sie befanden sich gewiss auch unter uns, machten das Navigieren zu einer heiklen Angelegenheit und erklärten, weshalb Richard die Fahrt gedrosselt hatte. Wie Mönche in schwarzen Kutten, im Gebet erstarrt, standen sie stumm da.
Und irgendetwas Eigenartiges war in jener Nacht in meinen Kopf gekrochen, denn es schien mir, als hätten diese Felsen ein Bewusstsein, als wäre ihnen das menschliche Drama, das sich vor ihnen abspielte, nicht neu, und als schauten sie mit kalter Neugier zu und warteten ab, wie es diesmal ausgehen würde.
Nach ungefähr zehn Minuten lieÃen wir sie hinter uns, und Richard nahm wieder Fahrt auf. Noch immer war nichts von Duncan zu sehen, doch wir bewegten uns von jeglicher Hilfe fort. Wir mussten bald handeln. Ich fragte mich, ob Duncan da unten in der Kabine vielleicht nicht merkte, in welche Richtung wir fuhren. Auf jeden Fall konnten wir nicht mehr viel länger warten. Ich schob mich das Deck entlang, bis ich ins Cockpit treten konnte. Als ich den Niedergang hinabschaute, sah ich Richard am Steuer stehen, die Karte direkt neben sich. Wenn er sich umdrehte, würde er mich sehen. Ich musste einfach darauf bauen, dass er es nicht tat. Vorsichtig hob ich den Deckel des Backbordschapps an und blickte hinein: mehrere Taue. Ich suchte mir das
kürzeste aus und machte den Deckel wieder zu. Dann schlich ich durchs Cockpit auf die Stufen zu. Wenn er sich umdrehte, würde er mich sehen. Seiâs drum.
Ich trat auf den Niedergang, setzte den Fuà auf die oberste Stufe.
Richard rührte sich nicht.
Mit der freien Hand hielt ich mich am Geländer fest und trat auf die nächste Stufe. Und dann auf die darunter.
Die dritte Stufe war feucht, und mein Sportschuh rutschte ein wenig. Er machte ein leises, quatschendes Geräusch.
»Guten Abend, Tora«, sagte Richard ruhig.
Â
Jegliche Energie verlieà mich, und ich sank erschöpft auf die Stufen. Er drehte sich um, und wir sahen einander in die Augen. Ich hatte Zorn erwartet, vielleicht Entrüstung oder auch eine Art grausamen Triumph. Was ich sah, war Traurigkeit.
Lange starrten wir einander an. Dann wanderte sein Blick über meine Schulter hinweg zur Backbordkabine. Wusste er bereits, dass Duncan ebenfalls an Bord war? Ich schaute zur Seite. Die Tür war fest geschlossen. Wieder wandte ich mich Richard zu. Er zog den Gashebel zurück, und das Boot wurde langsamer, kam fast zum Stehen. Dann streckte er die Hand aus und schaltete den Autopiloten ein. SchlieÃlich stand er auf und kam einen Schritt auf mich zu.
»Ich wünschte, du hättest das nicht getan«, sagte er.
Ich fühlte, wie meine Augen brannten und mein Unterkiefer zu zittern begann. Bitte lass mich nicht losheulen, nicht ausgerechnet jetzt.
»Ich nehme an, Emma hat mich verraten?«, fragte ich und hoffte, dass es so war. Wenn Emma es ihnen gesagt hatte, dann wussten sie vielleicht nicht, dass ich Duncan begegnet war. Wo zum Teufel steckte er überhaupt? Ich drückte die Hand an die Brust.
»Ja, sie hat deinen Besuch erwähnt. Und dann brauchten nur
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