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Todesopfer

Todesopfer

Titel: Todesopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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suchte meine Schuhe und meinen Mantel und folgte ihm hinaus. Während ich mein Büro abschloss, fragte ich mich, wie es ihm gelungen war, die Tür zu öffnen und ein Zimmer ohne Teppichboden zu durchqueren, ohne dass ich es bemerkt hatte. Und wenn ich es recht bedachte, wieso hatte ich sein Spiegelbild in der Fensterscheibe nicht gesehen? Ich musste ganz und gar in einem Tagtraum versunken gewesen sein.
    Â 
    Zwanzig Minuten später hatten wir einen Fensterplatz in dem Gasthof in Weisdale gefunden. Die Aussicht auf das Voe war grau: graues Meer, grauer Himmel, graue Hügel. Ich kehrte ihr den Rücken zu und schaute stattdessen ins Feuer. Zu Hause in London begannen bestimmt gerade die Blumen in den Parks zu blühen, die ersten Touristen bevölkerten die Straßen, und die Kneipenwirte staubten ihre Gartenmöbel für den Bürgersteig ab. Auf den Shetlandinseln kommt der Frühling spät und mürrisch, wie ein Halbwüchsiger, den man zum Kirchgang zwingt.
    Â»Ich habe gehört, Sie trinken keinen Alkohol«, sagte Gifford, während er ein großes Glas Rotwein vor mich hinstellte. Dann setzte er sich und fuhr mit den Fingern durch sein Haar, schob es hoch und aus seinem Gesicht. Ungebändigt streifte es gerade eben seine Schultern. Es war stufig geschnitten, ohne Pony, ein Schnitt, den man manchmal bei Männern sieht, die niemals ganz aus der rebellischen Phase ihrer Jugend herausgefunden haben. An einem Mitglied des Royal College of Surgeons sah das geradezu lächerlich unpassend aus, und ich fragte mich, was er zu beweisen versuchte.
    Â»Stimmt«, antwortete ich und ergriff das Glas. »Das heißt, tue ich auch nicht. Nicht viel. Normalerweise nicht.« Die Wahrheit war, ich hatte früher genauso viel getrunken wie jeder andere. Mehr als die meisten Leute, bis Duncan und ich angefangen hatten, es mit dem Kinderkriegen zu versuchen. Dann hatte ich Abstinenz gelobt und mich bemüht, Duncan auch dazu zu bringen.
Doch in letzter Zeit hatte meine Entschlossenheit stark nachgelassen. Es ist ja so einfach, sich einzureden, dass ein Gläschen nicht schadet, und dann, ehe man sich’s versieht, wird aus einem Glas eine halbe Flasche, und wieder ist ein heranreifender Follikel ernsthaft geschädigt. Manchmal wünschte ich mir, ich wüsste nicht so viel darüber, wie der menschliche Körper funktioniert.
    Â»Ich finde, Sie haben eine hervorragende Ausrede«, meinte Gifford. »Haben Sie jemals Ivanhoe gelesen?«
    Ich schüttelte den Kopf. Mit den klassischen Werken der britischen Literatur hatte ich nie viel anfangen können. Ich hatte mich mit Bleak House abgeplagt – und war schließlich daran verzweifelt –, als ich Englisch beim Erreichen der mittleren Reife als Pflichtfach gehabt hatte. Danach hatte ich mich auf Naturwissenschaften konzentriert.
    Gifford griff nach seinem Drink, einem großen Whisky. Zumindest sah es danach aus, aber es hätte genauso gut Apfelsaft sein können. Während er abgelenkt war, gestattete ich mir, ihn eingehend zu mustern. Sein Gesicht war ein kräftiges Oval und das dominanteste Merkmal die Nase, lang und dick, dabei jedoch vollkommen gerade und ebenmäßig. Er hatte einen breiten, vollen Mund mit schön geschwungenen Lippen. Fast hätte man von einem Frauenmund sprechen können, wäre er nicht für das Gesicht einer Frau viel zu groß gewesen. An diesem Abend war er zu einem Halblächeln verzogen, und tiefe Furchen zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Gifford konnte man nach keinerlei Maßstäben als einen gut aussehenden Mann bezeichnen. Und ganz bestimmt konnte er Duncan nicht das Wasser reichen, trotzdem hatte er etwas.
    Er wandte sich wieder zu mir um. »Ziemlich unangenehme Geschichte«, sagte er. »Alles okay?«
    Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Ȁh, die Leiche zu finden, in die Obduktion einbezogen zu werden oder ohne Ivanhoe leben zu müssen?«, fragte ich.
    Um uns herum füllte sich das Lokal allmählich; vornehmlich Männer, vornehmlich jung, Arbeiter aus den Ölraffinerien, die
keine Familien besaßen und mehr auf Gesellschaft aus waren als aufs Trinken.
    Gifford lachte. Er hatte große Zähne; sehr weiß, aber ungleichmäßig. Die Schneidezähne standen vor. »Sie erinnern mich an eine von den Figuren«, sagte er. »Wie haben Sie sich bis jetzt eingelebt?«
    Â»Okay, danke. Die Leute

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