Todesopfer

geworden, wie immer, wenn ich mich ereifere. »Mütter stillen ihr Neugeborenes in vierundzwanzig Stunden zehnmal oder sogar noch öfter. Also sollen sie sich zwanzigmal am Tag bis zur Hüfte ausziehen, sich über ein Waschbecken mit warmem Wasser beugen, alles ordentlich einseifen und fest die Zähne zusammenbeißen, wenn das auf den wunden Brustwarzen brennt, sich abtrocknen und wieder anziehen. Und das alles, während ihr Baby vor Hunger brüllt. Der Mann hat doch nicht alle Tassen im Schrank!«
    Â»Ganz offensichtlich.« Giffords Blick huschte durch den Raum. Mehrere Leute hörten uns mittlerweile zu.
    Â»Und ich habe mir gedacht: Egal, was für ein genialer Geburtshelfer dieser Mann ist, er sollte nicht mit gestressten, verletzlichen Frauen in Berührung kommen.«
    Â»Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Ich werde Brustwaschungen umgehend aus dem postnatalen Prozedere streichen lassen.«
    Â»Ich danke Ihnen«, erwiderte ich und begann zu lächeln.
    Â»Jeder, mit dem ich gesprochen habe, scheint äußerst beeindruckt von Ihnen zu sein«, erklärte er und beugte sich vor.
    Â»Danke«, sagte ich wieder. Das war mir neu, aber es waren schöne Neuigkeiten.
    Â»Wäre wirklich schade, wenn Sie schon so früh vom Kurs abkämen.«

    Das Lächeln erstarb. »Wie meinen Sie das?«
    Â»So eine Leiche zu finden, würde jeden umhauen. Möchten Sie sich ein paar Tage freinehmen? Vielleicht Ihre Eltern besuchen?«
    Auf den Gedanken, Urlaub zu nehmen, war ich gar nicht gekommen. »Nein, warum sollte ich?«
    Â»Sie sind traumatisiert. Sie halten sich prima, aber Sie müssen traumatisiert sein. Das müssen Sie verarbeiten.«
    Â»Ich weiß. Das werde ich auch.«
    Â»Wenn Sie darüber reden möchten, wäre es besser, das nicht auf den Inseln zu tun. Eigentlich wäre es viel besser, es überhaupt nicht zu tun.«
    Â»Besser für wen?« Endlich wurde mir der wahre Grund für unseren gemütlichen kleinen Kneipenplausch klar.
    Gifford lehnte sich zurück und schloss die Augen. Eine Weile rührte er sich nicht; ich überlegte schon, ob er wohl eingeschlafen sei. Während ich ihn betrachtete, wurde sein Mund, nicht mehr seine Nase, zum Markantesten in seinem Gesicht. Ich fand ihn beinahe schön und ertappte mich dabei, wie ich daran dachte, den Finger auszustrecken und zart seine Konturen nachzuzeichnen.
    Â»Tora, denken Sie doch mal daran, was wir da drin gesehen haben. Das ist kein gewöhnlicher Mord. Wenn man will, dass jemand stirbt, schneidet man ihm die Kehle durch oder drückt ihm ein Kissen aufs Gesicht. Vielleicht pustet man ihm auch das Gehirn mit ’ner Schrotflinte raus. Aber man macht doch nicht das, was diesem armen Mädchen angetan wurde. Also, ich bin kein Polizist, aber diese ganze Geschichte riecht nach einer Art abgedrehtem Ritualmord.«
    Â»So eine Art Kultsache?«, fragte ich und dachte an meine spöttischen Bemerkungen zum Thema Hexerei Dana Tulloch gegenüber.
    Â»Wer weiß? Es steht mir nicht zu, darüber zu spekulieren. Erinnern Sie sich noch an diesen Kindesmisshandlungsskandal auf den Orkneys, vor ein paar Jahren?«
    Ich nickte. »Vage. Satanismus und so was.«
    Â»Satanismus, Blödsinn! Es gab keine Beweise für Fehlverhalten
oder Misshandlungen. Und trotzdem wurden im Morgengrauen die Türen von irgendwelchen Privatwohnungen aufgebrochen und schreiende kleine Kinder aus den Armen ihrer Eltern gerissen. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie sich das alles auf die Inseln und deren Bewohner ausgewirkt hat? Wie es sich immer noch auswirkt? Ich habe erlebt, was auf entlegenen Inseln passiert, wenn Gerüchte und Hysterie aus dem Ruder laufen. Ich will nicht, dass sich das hier wiederholt.«
    Ich versteifte mich. Stellte mein Glas ab. »Ist das im Augenblick wirklich das Wichtigste?«
    Gifford beugte sich so weit zu mir vor, dass ich den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. »Und wie wichtig das ist«, erwiderte er. »Die Frau, die sich in Dr. Renneys Obhut befindet, geht uns nichts an. Lassen wir die Polizei ihre Arbeit machen. Andy Dunn ist kein Idiot und DS Tulloch der hellste Kopf, dem ich seit langem bei unserer Polizei begegnet bin. Meine Aufgabe dagegen – und Ihre – ist es, dafür zu sorgen, dass in der Klinik weiter alles ruhig abläuft und diese Insel nicht von einer lächerlichen Panik erfasst wird.«
    Ich konnte