Todesopfer
sagte sie.
Ich streckte die Hand aus. »Ich kann nicht einfach Informationen über Patienten herausgeben. Ich muss Sie bitten, das wieder hinzulegen.«
Sie sah mich an, legte die Papiere wieder zurück, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und las weiter. Ich griff nach der Liste. Sie hob die Hand, um mich zurückzuhalten.
»Nach dem, was ich gesehen habe, sind das hier zum gröÃten Teil öffentlich zugängliche Informationen. Ich kann sie mir auch woanders besorgen. Ich hatte nur das Gefühl, es geht schneller, wenn ich zu Ihnen komme. Ich dachte, Sie wollen vielleicht helfen.«
Nun ja, da war etwas dran. Persönliche Abneigung hin oder her, sie und ich sollten eigentlich auf derselben Seite stehen. Trotzdem nahm ich die Liste an mich. Wir standen da und starrten einander an. Sie war gute zehn Zentimeter kleiner als ich, doch irgendwie glaubte ich, dass Körperlänge allein sie nicht einschüchtern würde.
»Wie viele?«, wollte sie wissen.
»Hundertvierzig«, antwortete ich.
»Und alles gesunde weiÃe Frauen zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreiÃig?«
»So ziemlich.«
»Nicht weiter wild. So was machen wir andauernd. Sollte nur
ein paar Tage dauern. Aber wenn Sie mich zwingen, woanders hinzugehen und mir eine gerichtliche Verfügung zu besorgen, könnte dabei ein Tag oder mehr verloren gehen.«
»Ich sollte mich wirklich erkundigen, ehe ich â«
»Tora«, fiel sie mir ins Wort und nannte mich zum ersten Mal beim Vornamen. »Ich bin seit zehn Jahren bei der Polizei, einen groÃen Teil davon habe ich in GroÃstädten verbracht, in Problemvierteln. Aber nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was wir gestern Abend da auf dem Autopsietisch gesehen haben. Ich will in mein Büro zurück und dafür sorgen, dass mein Team sich ans Telefon hängt, um herauszufinden, ob diese Frauen noch am Leben und damit beschäftigt sind, sich um ihre nunmehr zweijährigen Kinder zu kümmern. Und zwar sofort.«
Ich reichte ihr die Liste. Etwas in ihrem Gesicht wurde weicher, als sie sie entgegennahm.
»Die mit Kaiserschnitten können Sie abhaken«, meinte ich und fragte mich, wieso ich noch nicht daran gedacht hatte. »Sie hatte keine Narbe.«
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?«, wollte sie wissen.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht so auf die Schnelle. Sind die Pathologen aus Inverness schon fertig?«
Sie antwortete nicht, und ich warf einen vielsagenden Blick auf die Liste in ihrer Hand.
»So ziemlich«, sagte sie. »Wir haben auch mit ein paar Fachleuten über die Auswirkungen von Torf auf organisches Material wie Leinen gesprochen. Dr. Renney hatte absolut recht damit, dass sie im Frühling oder im Sommer 2005 umgekommen ist. Diese Liste hier ist wichtig.«
Sie dankte mir und ging zur Tür. »Kann ich später noch mal bei Ihnen zu Hause vorbeikommen?«, fragte sie mit einem Blick über die Schulter. »Ich muss mir Ihre Runen anschauen.«
Ich verkniff mir ein Lächeln, nickte und sagte ihr, ich wäre so gegen sechs zu Hause. Dann verschwand sie. Ich setzte mich an den Computer und loggte mich aus. Da bemerkte ich die E-Mail. Sie war von Gifford.
An alle Mitarbeiter.
In Anbetracht der von der Northern Constabulary durchgeführten Mordermittlungen sind alle Mitarbeiter angehalten, ohne meine Genehmigung der Polizei oder den Medien gegenüber weder Aussagen zu machen noch klinikrelevante Informationen herauszugeben.
Um es mit den Worten des unsterblichen Barden auszudrücken â oh, ScheiÃe.
Â
Meine Visiten waren schnell absolviert. Ich holte meine Jacke und schnappte mir in der Cafeteria ein Sandwich. Auf dem Weg zum Fahrstuhl spürte ich jemanden hinter mir und drehte mich um. Es war Kenn Gifford. Er nickte mir zu, schwieg jedoch. Der Fahrstuhl kam, und wir gingen hinein. Die Türen schlossen sich. Er schwieg noch immer.
Mir ist aufgefallen, dass es Leute gibt, die überhaupt nicht verlegen sind und in Gegenwart anderer schweigen können, ohne das geringste Anzeichen von Befangenheit zu zeigen. Gifford gehörte dazu. Er sah mich nicht einmal an, als die Fahrstuhlkabine abwärtsglitt, sondern starrte nur auf die Knöpfe, anscheinend völlig in Gedanken versunken. Es war einer dieser groÃen Krankenhausaufzüge, die dafür gedacht sind, Betten zu befördern, doch wir waren die Einzigen darin.
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