Todesqual
gehörte. Die städtischen Angestellten sahen nur Stufe rot und flohen in Scharen. Wer sich nicht versetzen lassen konnte, kündigte. Lena zweifelte nicht daran, dass das Glashaus beim nächsten Erdbeben zu einem Schutthaufen zusammensacken würde. Dann würden die Gutachter mit ihren beschönigenden Berichten endlich ihre Pflicht und Schuldigkeit getan haben. Und die Politiker konnten ihre Debatten um des Kaisers Bart beenden.
Lena trank noch einen Schluck von ihrem heißen Kaffee und versuchte, sich nicht die Zunge zu verbrennen oder nachzurechnen, wie lange sie im Notfall wohl vom zweiten Stock bis hinaus ins Freie brauchen würde. Der aromatische starke Kaffee weckte ihre Lebensgeister. Allein im Großraumbüro, saß sie an ihrem Schreibtisch. Sie war froh über ihren Fensterplatz hinten im Raum. Hier war es nicht so laut, und außerdem wusste sie die Aussicht zu schätzen. Das Dezernat für Raub und Tötungsdelikte bestand aus vierundzwanzig zu Vierergruppen zusammengestellten Schreibtischen. Das Büro des Captain befand sich hinter ihr in einem kleinen Flur am Mittelgang. Lieutenant Barreras Schreibtisch stand vorne im Raum mit Blick zur Tür. Dazwischen gab es eine Trennwand
und drei weitere Schreibtische. Das Büro war überfüllt, die Möblierung fünfzig Jahre alt. Im Keller unweit der Asservatenkammer war Asbest festgestellt worden. Drei Mitarbeiter, die über fünfzehn Jahre in diesem Gebäude tätig gewesen waren, waren an einer seltenen Krebsform erkrankt.
Anstatt die vorläufigen Berichte auf ihrem Schreibtisch zu studieren, musste Lena wieder an die dumme Pute aus dem Stadtrat denken. Als das Telefon läutete, nahm sie ab und erkannte die Stimme des Anrufers. Es war Jimmy Kim, ihr Kontaktmann bei der Telefongesellschaft. Lieutenant Barrera hatte die Genehmigung eingeholt, Brants Telefonverbindungen einzusehen. Vor einer Viertelstunde hatte Lena Kim vom Blackbird Café aus mit dem Mobiltelefon angerufen.
»Ich habe die Liste«, verkündete Kim. »Soll ich sie Ihnen faxen oder lieber mailen?«
»Mailen«, erwiderte Lena. »Wurde denn viel telefoniert?«
»Die Brants haben zwei Anschlüsse, einen fürs Telefon und einen fürs Internet. Auf der Telefonleitung der Brants ist gestern Abend um Viertel vor zehn ein Anruf eingegangen. Es wurde etwa acht Minuten gesprochen.«
»Von wo kam der Anruf?«
»Es war die Nummer, die Sie mir gegeben haben: Brants Büro.«
»Und später?«
»Auf der Telefonleitung war es das. Nur dieser eine Anruf. Sonst ist nichts rein- oder rausgegangen. Ich schicke Ihnen einen Ausdruck mit der Post.«
»Und was ist mit der zweiten Leitung?«
»Sie haben Glück«, antwortete Kim. »Die Datenübertragung läuft auf niedrigem technischen Niveau. Die Brants haben weder DSL noch ein Kabelmodem.«
Das hatte Lena gehofft. Denn wenn die Brants sich über DSL oder ihren Kabelanbieter ins Internet eingewählt hätten, wären sie immer im Netz gewesen. Dann hätte Lena sich
an die Abteilung Computerkriminalität wenden müssen, um zu erfahren, wann genau der Computer benutzt worden war. Und dort wurde erst am Montagmorgen wieder gearbeitet.
»Man muss sich für jede Verbindung neu einwählen«, erklärte Kim. »Jemand ist um drei Uhr morgens ins Netz gegangen und hat den Computer erst um fünf wieder abgeschaltet.«
Auf Lenas Bildschirm erschien eine E-Mail. Als sie sie öffnete, hatte sie Jimmy Kims Bericht vor sich. Sie griff nach ihrem Becher, trank noch einen Schluck und war nicht sicher, ob das innere Vibrieren an der Überdosis Koffein oder an dem Adrenalinstoß lag, der sie beim Anblick des Berichts durchfuhr. Der Gerichtsmediziner hatte den Zeitpunkt von Nikki Brants Tod auf zwei Uhr morgens eingegrenzt. Und die Vorstellung, dass ein fremder Eindringling erst einen Mord beging und anschließend zwei Stunden im Internet surfte, war einfach absurd.
»Danke, Jimmy«, sagte sie. »Der Bericht ist angekommen. Ich bin Ihnen was schuldig.«
»Wie wahr, Lena, denn es ist Freitagabend. Ich weiß ja nicht, wie das bei Polizisten aussieht, aber ich habe ein Privatleben.«
Lena legte auf, lehnte sich zurück und fragte sich, wie sie sich anfangs so hatte irren können. Normalerweise war der Ehepartner in einem Mordfall doch der erste Verdächtige, dem man auf den Zahn fühlte. Häusliche Gewalt galt als das häufigste Motiv. Warum war sie nicht argwöhnisch geworden? Und Novak und Rhodes auch nicht?
Schließlich war der Fall O. J. Simpson nicht der einzige, dachte sie. Es waren
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