Todesregen
Boden.
Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie, dass er nach ihr greifen wollte. Sie drückte ab, und die Pistole zuckte in ihrer Hand.
Nun wurde er zu der Opfergabe, die er aus den Kindern hatte machen wollen. Die Kugel fand sein Herz so exakt, dass er tot war, bevor ein verblüffter Ausdruck auf sein Gesicht treten konnte, bevor sein Körper zu Boden krachte.
Dass die Waffe in seiner Hand zweimal versagt hatte und dass Molly dann so perfekt ihr Ziel getroffen hatte, war kein Zufall. Die Pistole war auch nicht defekt. Da wirkte irgendetwas zugunsten von Molly, irgendeine unheimliche Kraft.
Der raschelnde Schwarm in den Wänden war verstummt.
57
Das grelle Licht, das durch die Fenster drang, brachte zu viel Helligkeit in den Raum voller Blut und Leichen. Molly ergriff rasch die Taschenlampe und verließ das Zimmer. Sie nahm den Weg über das angrenzende Badezimmer, aus dem der Angreifer gekommen war.
Durch ein hohes Fenster hinter der Dusche strömte Licht, in dem sie sich selbst im Spiegel sah – und eine Gestalt, die nicht anwesend war. Erschrocken blinzelte Molly, blieb stehen, um genauer hinzuschauen, aber da war jetzt nur noch sie selbst.
Sie wusste nicht, ob ihre Mutter Thalia, die sie im Spiegel gesehen hatte, tatsächlich da gewesen war, oder ob diese Vision nur der flüchtige Ausdruck eines innigen Wunsches gewesen war, eine Halluzination, vielleicht sogar kurz aufflackernder Wahnsinn.
Obwohl sie gerne stehen geblieben wäre, um den Spiegel genauer zu betrachten, wusste sie, dass die vor der Opferung geretteten Kinder sie brauchten. Während sie durchs nächste Zimmer in den Flur eilte, beleuchtete ihr das über dem Haus schwebende Fahrzeug den Weg.
Kaum hatte sie die Tür neben der Treppe erreicht, als diese auch schon aufschwang.
Es war das Zimmer eines Mädchens. Plüschtiere lehnten am Kopfbrett eines Betts, dessen Tagesdecke mit Rüschen besetzt war. Seidig schimmernde Vorhänge mit Litzen. Poster von Teenageridolen an den Wänden, affektierte Jungs mit androgynen Gesichtern. Allerhand Schnickschnack.
Zwei Stühle waren mit den Lehnen aneinandergestellt. Darauf saßen das schwarzhaarige Mädchen, etwa zehn oder elf Jahre alt, und ihr Bruder. Ihre Handgelenke und Knöchel waren mit Isolierband an die Stühle gefesselt.
Virgil bewachte die Kinder, und dafür gab es einen guten Grund.
Eine Kolonie von Pilzen – weiße Blasen, fahle Lungensäckchen – hockte in einer Ecke. Eine zweite Kolonie hatte ihre dicken, insektenartigen Beine ausgefahren und hing an der Decke über dem Bett. Bis auf die an- und abschwellenden Säckchen bewegten die Kreaturen sich nicht, aber wer wusste schon, was in ihrem Innern wuselte.
Auf dem Bett lagen die leere Isolierbandrolle und das Messer, mit dem der Killer das Band geschnitten hatte.
Ausnahmsweise hoffte Molly, das UFO würde weiter über dem Haus schweben und Licht durch die Fenster strömen lassen, damit sie nicht gezwungen war, sich in Gesellschaft der wandelnden Pilze auf ihre Taschenlampe zu verlassen. Sie nahm das Messer vom Bett und fing an, das Isolierband zu durchtrennen.
Die Kinder hießen Bradley und Allison, und Molly versuchte so gut wie möglich, sie zu beruhigen, erklärte ihnen jedoch auch, sie müssten rasch das Haus verlassen. Als die beiden sich angstvoll nach dem Schicksal ihrer Eltern erkundigten, nahm sie Zuflucht zu einer Lüge.
Das Leben all dieser Kinder zu retten war wahrscheinlich leichter, als ihnen später – wenn es dazu kam – zu helfen, auf dem schwankenden Grund persönlicher Tragödien und katastrophaler Zerstörung eine Zukunft aufzubauen.
Entschlossen verbot Molly sich, weiter darüber nachzudenken. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, musste sie im Augenblick leben, und um den Kindern Hoffnung zu machen und ihnen zu helfen, die Verzweiflung über für immer verlorene Dinge zu überwinden, musste sie ihnen irgendwann beibringen, ebenfalls nur in der Gegenwart zu leben.
Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie, seit sie die Schwelle des Hauses überschritten hatte, irgendwie zu der Überzeugung gekommen war, dass die Kinder eine Zukunft haben würden. Davor hatte sie nicht auf ein dauerhaftes Überleben zu hoffen gewagt. Einige der Gründe für diesen Sinneswandel kannte sie, aber nicht alle; offenbar hatte ihr Unterbewusstsein weitere Ursachen für Optimismus wahrgenommen, zu denen sie noch keinen direkten Zugang hatte.
Weil Bradley jünger und verängstigter war als seine Schwester, befreite Molly ihn zuerst und sagte
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