Todesregen
von ihrer Mutter geerbt hatte. Unvermittelt gaben sie ein metallisches Klimpern und Klirren von sich, sechs verschiedene Melodien, die sich zu einer schrillen Dissonanz vereinten.
Auf zwei der Spieldosen waren von Spiralfedern angetriebene Porzellanfiguren angebracht, die sich ebenfalls in Bewegung setzten. Ein elegantes Paar in viktorianischer Mode tanzte einen Walzer. Ein Karussellpferd drehte sich unablässig rundherum.
Der Missklang spröder Töne malträtierte Mollys Nerven und schnitt wie eine chirurgische Säge durch ihre Schädelknochen.
Innerhalb eines einzigen Augenblicks hatten sich die vertrauten Spieldosen, die schon seit Mollys Kindheit zu ihrem Leben gehörten, in beunruhigende, fremdartige Dinge verwandelt.
Neil, der die winzigen Tänzer und das kreisende Pferd ebenfalls anstarrte, war offenbar genauso verstört wie Molly. Trotzdem machte er keinen Versuch, die Spieldosen abzustellen.
Stattdessen drehte er sich wieder zum Fenster um, öffnete es jedoch nicht, wie er es eben noch vorgehabt hatte. Er legte die Sicherung vor, die er bereits gelöst hatte.
4
Während die beiden hastig in Jeans und Pullover schlüpften, berichtete Molly von den Kojoten.
Das düstere Trommeln des Regens, das manische Klimpern der Spieldosen und das unterschwellige Pulsieren einer unbekannten Quelle unterlegten Mollys Worte mit einem Klangteppich ohne zusammenhängende Melodie, durch den das Abenteuer auf der Veranda beim Erzählen wesentlich bedrohlicher klang, als es tatsächlich gewesen war. Gern hätte Molly Neil das Gefühl von Verwunderung und Ehrfurcht vermittelt, das sie empfunden hatte, doch das gelang ihr nicht.
Während sie sich bemühte, das inmitten der Kojoten erlebte Einssein mit der Natur zu beschreiben, saß sie auf der Bank vor dem Toilettentisch und zog sich dicke Socken an. Ihre Hände zitterten.
Immer noch redend, griff sie aus Gewohnheit zu der Haarbürste, die neben der Pistole lag. Obwohl sie merkte, wie absurd es war, die merkwürdige Atmosphäre durch eine so banale Handlung zu übertünchen, sah sie in den Spiegel, um sich die Haare zu richten.
Ihr Ebenbild war so, wie es sein sollte, aber alles andere im Spiegel war falsch . Hinter ihr befand sich nicht das gemütliche, vom Lampenschein erleuchtete Schlafzimmer, das bis auf die zerknüllte Bettdecke sauber und ordentlich war – stattdessen sah sie Dreck und Verfall.
Ihre Stimme brach mitten im Satz ab, sie ließ die Haarbürste fallen. Als sie auf der Bank herumwirbelte, um festzustellen,
ob das Zimmer sich tatsächlich verändert hatte, war es so, wie es immer gewesen war.
In der Wirklichkeit war nur der Wecker auf dem Nachttisch nicht in Ordnung. Ein Chaos aus leuchtend grünen Ziffern strömte über das Display.
Im Spiegel hingegen sah man fleckige, von Moder oder Schimmel überzogene Wände. Nur eine Lampe war noch da, deren zur Seite gekippter Schirm verfaulte. Über das Kopfbrett des zusammengebrochenen Betts krochen Ranken, die zu üppig waren, um in dieser Höhe heimisch zu sein; die grau-grünen, von Feuchtigkeit glänzenden Blätter hingen da wie eine Schar hechelnder Zungen.
Wieder war Molly versucht zu glauben, dass sie gar nicht aufgestanden und dann nach unten gegangen war, sondern alles nur im Schlaf erlebt hatte – und noch immer schlief. Der Regen und all die merkwürdigen Dinge, die damit zusammenhingen – von den Kojoten bis hin zu diesem Bild im Spiegel – ergaben mehr Sinn, wenn es sich um Traumfantasien handelte.
Neil, der zu ihr getreten war, hob den Arm, um den Spiegel zu berühren, als glaubte er, das Bild darin sei nicht nur eine flache Reflexion, sondern eine dreidimensionale Wirklichkeit, eine Welt jenseits des Spiegels.
Unwillkürlich hielt Molly seine Hand fest. »Nein!«
»Wieso nicht?«
»Weil…«
Sie hatte keinen vernünftigen Grund, ihn aufzuhalten, nur eine abergläubische Angst vor dem, was womöglich geschah, wenn seine Fingerspitzen auf die silbrige Oberfläche des Spiegels trafen.
Ohne sich um ihre Bedenken zu kümmern, berührte er mit der anderen Hand den Spiegel, der sich als massiv erwies.
Da bewegte sich in jenem anderen Schlafzimmer plötzlich etwas. Ein Schatten, der dann doch kein Schatten war,
sondern eine geschmeidige dunkle Gestalt. Sie huschte so schnell quer über die Spiegelfläche und aus dem Blickfeld, dass es sich um einen Menschen mit Umhang gehandelt haben konnte, einen Menschen mit Hautflügeln – oder um etwas, was gar kein Mensch war.
Mit einem
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