Todesregen
Schreckenslaut zog Neil die Hand zurück, als fürchtete er, das Wesen auf der anderen Seite könnte im Gegensatz zu ihm die Fähigkeit besitzen, durch den Spiegel zu greifen.
Im selben Augenblick zuckte Molly herum und sprang auf. Irrsinnigerweise war sie völlig sicher, dass etwas durch die Schranke aus Glas und Quecksilber ins Zimmer gekommen war, doch wohin sie auch schaute, nirgendwo war ein unerwünschter Besucher zu sehen.
Sie warf einen Blick auf den Wecker, gerade als der Ziffernstrom abrupt innehielt. Die Zeit auf ihrer Armbanduhr stimmte mit der Digitalanzeige des Weckers überein: 2.44 Uhr.
Die Spieldosen verstummten.
Mit einem Ding! kam das Karussellpferd mitten im Galopp zum Stehen, und das Walzer tanzende Paar erstarrte.
Gleichzeitig spürte Molly, dass das reale oder imaginäre Gewicht, das über ihrem Kopf gehangen hatte wie ein riesiges Damoklesschwert, verschwunden war.
Auch das kaum hörbare, aber umso stärker spürbare Pulsieren, das ihren Körper durchdrungen hatte, verstummte.
»Der Spiegel«, sagte Neil.
Das Bild, das sich nun darin bot, entsprach dem Raum, in dem sie standen. Kein Verfall, keine verschimmelten Wände, keine üppigen Ranken.
Neil hob den Kopf und schaute an die Decke. Dann ging er zum Fenster, wo er weniger den Wald ringsum betrachtete als den düsteren Nachthimmel, aus dem es in Strömen goss.
»Es ist weg«, sagte er.
»Ich habe auch etwas gespürt«, gab Molly zu. »Aber … was war das?«
»Keine blasse Ahnung.«
Er war genauso wenig ehrlich zu ihr wie sie zu ihm.
Sie waren von einer Kultur geprägt, die regelrecht süchtig nach intergalaktischem Kontakt war, nach dieser Grundlage eines neuen Glaubens, in dem Gott nur noch eine Nebenrolle spielte. Die meisten Menschen kannten die Lehrsätze dieser Pseudoreligion besser als die Worte des Vaterunsers: Wir sind nicht allein … Schaut in den Himmel … Die Antwort ist da droben … So verkündeten es Steven Spielberg, George Lucas und M. Night Shyamalan. Unzählige Filme, Fernsehserien und Bücher hatten die Welt davon überzeugt, dass die Weisen aus dem Morgenland, die auf ihren Kamelen nach Bethlehem geritten waren, moderne Nachfolger in Form von Wissenschaftlern finden würden, die in mobilen Labors mit Satellitenschüsseln auf dem Dach an mysteriösen UFO-Landeplätzen landeten. Die Rettung der Menschheit wurde nicht mehr von einer höheren Sphäre erwartet, sondern von einem anderen Planeten.
Molly kannte die Zeichen, die von Hollywood und der Science-Fiction-Literatur prophezeit wurden, nur zu gut, und Neil kannte sie ebenfalls.
Diese Septembernacht lag tief in einer Zone, in der unheimliche Begegnungen der dritten Art stattfanden. Auf diesem Terrain bestand die einzige Erklärung für Wunder in außerirdischer Technologie.
Dennoch wollte Molly diese Vorstellung nicht in Worte fassen, und Neil wollte es offenbar auch nicht. Verblüffung vorzutäuschen verschaffte den beiden ein stärkeres Gefühl der Sicherheit, als aufrichtig zu sein.
Vielleicht lag ihre Zurückhaltung an der Tatsache, dass Hollywood zu diesem Thema lediglich zwei wohlbekannte
Szenarien anbot – eines, in dem es sich bei den Außerirdischen um gütige Gottheiten handelte, und eines, in dem sie voll Zorn und Grausamkeit waren. Was die bisherigen Ereignisse betraf, so fehlte ihnen die Sentimentalität und das Augenzwinkern jener jugendfreien Filme, die sich an das erste Szenario hielten.
Neil wandte sich vom Fenster und dem vom Regen erstickten Himmel ab. »Es ist zwar sicher unnötig«, sagte er, »aber ich hole mal die Schrotflinte.«
In Gedanken an die verschwommene, geschmeidige Gestalt, die dunkel durch den modernden Raum im Spiegel gehuscht war, nahm Molly ihre Waffe vom Frisiertisch und sagte: »Und ich schaue nach, wo die Ersatzmunition für die Pistole ist. «
5
Auf dem Küchentisch lag die Schrotflinte samt einer Schachtel Patronen. Daneben die Pistole samt einem Ersatzmagazin und einer Schachtel mit Neun-Millimeter-Geschossen.
Die Vorhänge in der Küche und im Wohnzimmer nebenan hielten die Nacht und den Anblick des leuchtenden Regens ab, nicht jedoch sein allgegenwärtiges Rauschen.
Molly wurde das Gefühl nicht los, dass der Wald rund um das Haus, der ihr früher völlig harmlos vorgekommen war, nun unbekannte feindliche Beobachter barg. Offenbar teilte Neil ihre Paranoia, denn er hatte dabei geholfen, die Vorhänge zu schließen.
Beide ahnten, dass die mysteriösen Kräfte, die in dieser regennassen Nacht am
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