Todesregen
solche Menschen werde die Welt nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer zugrunde gehen. «
Neil beugte sich vor und spähte in den überfluteten Himmel. »Also, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich erwarte einen Knall.«
»Ich auch.«
Kaum eine Minute später kümmerte die Frage, mit wie viel Lärm und Gewalt die Welt enden würde, Molly mit einem Mal viel weniger, als sie für möglich gehalten hätte. Der Anblick eines Wanderers, der ihnen mit schnellem Schritt auf der anderen Fahrbahn entgegenkam, lenkte ihre Gedanken von der planetaren Katastrophe auf eine persönlichere Tragödie, die im Alter von acht Jahren ihr Leben verändert hatte und es seither täglich prägte.
Als Spaziergänger konnte man den Mann sicher nicht bezeichnen. Es gab keinen Fußweg entlang der Landstraße, nichts, was irgendjemand dazu hätte verlocken können, zu Fuß über den Hügel zu marschieren. Außerdem ging er mit entschlossenen Schritten, mit geradezu fanatischer Zielstrebigkeit.
Zuerst dachte Molly, es handle sich um einen jener Zeitgenossen, die der Meinung waren, wenn sie nur oft und weit genug marschierten und sich nie auch nur einen Löffel Eiscreme gönnten, würden sie ewig leben – einmal abgesehen von Bedrohungen, die man mit Askese nicht beeinflussen konnte, wie zum Beispiel außer Kontrolle geratene Lastwagen, Flugzeugabstürze und die Invasion von Außerirdischen.
In krasser Missachtung des Wetters trug er keine Regenkleidung. Sein völlig durchnässter Aufzug – hellgraue Hosen, gleichfarbiges Hemd – sah aus wie eine Uniform.
Eigentlich hätte es ihm miserabel gehen müssen, doch er stürmte vorwärts, als störten ihn die nassen Sachen und der Regen überhaupt nicht. Da Molly wegen der schlechten Sicht und ihrer Angst vor dem, was sie im Ort erwartete, extrem langsam fuhr, kam es ihr vor, als marschierte der Mann fast so schnell nach Norden, wie sie nach Süden fuhren.
Sein dichtes, dunkles Haar klebte ihm am Schädel. Er hielt den Kopf gesenkt, wohl um die nassen Schwaden der Sturzflut abzuwehren.
Als der Wagen näher kam, hob er den Kopf und blickte über die Straße.
Selbst durch die Regenschleier hindurch waren seine Gesichtszüge kraftvoll und prägnant. Er wäre Molly wie ein Filmstar vorgekommen, hätte sie nicht gewusst, dass das Gemüt hinter dem einnehmenden Gesicht monströs, verkommen und hinterhältig war.
Der Wanderer war Michael Render. Ihr Vater. Der Mörder.
Seit nahezu zwanzig Jahren hatte sie ihn nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gesehen.
Sofort wandte sie den Blick ab, nicht weil sie sich Sorgen machte, er könnte sie erkennen, sondern weil sie selbst auf die Entfernung die Macht seiner Augen fürchtete, den Magnetismus seines Blicks, die Faszination seiner Persönlichkeit.
»Was ist denn das?«, sagte Neil geschockt und wandte den Kopf, um aus dem Heckfenster zu spähen, während Molly beschleunigte. »Ich dachte, der ist hinter Gittern!«
Damit bestätigte Neil sofort die Identität des Mannes, und Molly konnte sich nicht der Hoffnung hingeben, ihre Fantasie habe ihr einen Streich gespielt, und der Wanderer sei ein Fremder, der Render ein bisschen ähnlich sah.
Wenn sie an ihn dachte, nannte sie ihn normalerweise nicht Vater, sondern bei seinem Nachnamen, den sie als Mädchen aufgegeben hatte, um den Geburtsnamen ihrer Mutter anzunehmen. Tauchte er ab und an in ihren Träumen auf, dann hatte er gar keinen Namen, und durch die Haut war sein Schädel sichtbar, seine Hände waren Sensen, und die Zähne in seinem breit grinsenden Mund waren schartige Grabsteine.
»Hat er … ?«, begann sie besorgt.
»Was? Dich erkannt?«
»Glaubst du’s?«
»Keine Ahnung. «
»Wir haben ihn erkannt.«
»Wegen der Scheinwerfer. Er konnte dich sicher nicht so gut sehen.«
»Ist er umgekehrt, kommt er jetzt hinter uns her?«
»Er steht einfach nur da, glaube ich. Schwer zu sagen. Er ist fast außer Sicht.«
» Scheiße.«
»Ist schon gut.«
»Nichts ist gut«, sagte sie scharf. »Du weißt, wo er hinwill. «
» Vielleicht. «
»Was sollte er denn sonst hier oben machen?«, fragte sie. »Er will zu unserem Haus. Zu mir.«
»Er weiß doch gar nicht, wo du wohnst.«
»Irgendwie hat er es eben herausbekommen.«
Sie schauderte, als sie sich vorstellte, was geschehen wäre, wenn sie sich entschlossen hätten, das Unwetter daheim zu überstehen und ihr Haus fälschlich für sicher zu halten.
»Jetzt kann ich ihn nicht mehr sehen«, sagte Neil. »Ich glaube … er ist nach
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