Todesregen
zu Menschen, die sich versammelt hatten, um sich gemeinsam zu verteidigen?
»Gott sei uns gnädig«, sagte Neil, denn er war bei Jesuiten auf die Schule gegangen.
Molly nahm den Fuß von der Bremse und fuhr weiter. Sie verzichtete darauf, um Gnade zu bitten, denn ihr Vertrauen war durch einen primitiven Aberglauben blockiert – sie fürchtete, das Schicksal würde ihr in seiner perversen Art versagen, worum sie bat, und ihr nur das gewähren, was sie nicht verlangte.
Doch da es ihrer Natur entsprach, hatte sie noch immer Hoffnung. Ihr Herz ballte sich wie eine Faust um ein Klümpchen Hoffnung zusammen; und wenn es kein Klümpchen war, dann doch ein Kiesel. Und wenn kein Kiesel, dann doch ein Sandkorn. Um ein einziges Sandkorn herum aber bauen Austern eine Perle.
Regen. Regen. Regen.
15
Das zweite verlassene Fahrzeug, ein bulliger Geländewagen, stand auf der nach Norden führenden Fahrbahn und blickte Molly und Neil, die südwärts fuhren, entgegen. Wieder lief der Motor, und keiner der Reifen war platt, was darauf hinwies, dass auch hier kein technischer Defekt im Spiel gewesen war.
Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, aber die Warnblinkanlage sandte rhythmische Signale in die Nacht. Sie wirkten wie ein Stroboskop, das die unzähligen Zungen des Regens zum Stottern brachte.
Bei dem ersten Wagen hatten drei der vier Türen offen gestanden, hier war es nur eine. Die Hintertür auf der Fahrerseite ließ den Regen ein und bot einen Blick auf den Rücksitz, der von der Innenbeleuchtung erhellt war.
»Neil, um Himmels willen!«, rief Molly und trat auf die Bremse.
» Was ist denn?«, fragte Neil.
Das an der Fensterscheibe herabströmende Wasser und das rhythmische Flackern der Warnblinkanlage täuschten das Auge, doch Molly wusste, was sie sah, und sie wusste, was zu tun war.
»Da ist ein Kind«, sagte sie und zog die Handbremse an. »Ein Baby.«
»Wo?«
»Auf dem Rücksitz des Wagens da«, sagte sie und stieß ihre Tür auf.
»Molly, so warte doch!«
Falls der Regen toxisch war, so war sie schon hoffnungslos vergiftet worden, als sie aus Harry Corrigans Haus geflohen war. Eine weitere Dosis konnte ihr nicht mehr Schaden zufügen als den, den sie eventuell bereits erlitten hatte.
Der nasse Asphalt schwitzte Öl aus, als wäre er kälter gewesen als der Regen. Unter Molly Füßen war es schlüpfrig.
Sie rutschte aus und wäre fast hingefallen. Während sie mit den Armen ruderte, hatte sie plötzlich den Eindruck, dass etwas sie beobachtete, irgendein auf der Lauer liegendes Wesen. Wäre sie tatsächlich gestürzt, so wäre das namenlose Ding aus der nassen Finsternis geglitten, hätte sie mit grausamen Kiefern gepackt und blitzschnell von der Straße weggetragen, über die Hügelkuppe hinweg, durch Bäume, Sträucher und Ranken, hinab in den dornigen Bauch der Nacht.
Als sie die offene Tür des fremden Wagens erreicht hatte, sah sie, dass das verlassene Kind – kein Baby, sondern ein barfüßiges kleines Mädchen in rosa Bermudashorts und einem gelben T-Shirt – in Wirklichkeit eine gut fünfzig Zentimeter große Puppe war. Ihre beweglichen Pummelärmchen waren ausgebreitet, als flehten sie um Hilfe oder hofften auf eine Umarmung.
Molly warf einen Blick auf die Vordersitze und in den Kofferraum. Niemand.
Das Kind, dem die Puppe gehörte, war dort, wo seine Eltern hingegangen waren. Vielleicht an einem Ort, der Zuflucht bot.
Was aber war der dauerhafteste Ort der Zuflucht, wenn nicht der Tod?
Weil Molly gegen diese Vorstellung rebellierte, platschte sie durch den Regen zum Heck des Wagens.
Sie hörte, wie Neil ihr mit besorgter Stimme etwas zurief. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er ausgestiegen
war und dastand, die Schrotflinte in beiden Händen, um ihr Deckung zu geben.
Obwohl sie seine Worte nicht richtig verstehen konnte, wusste sie, was er wollte: Sie sollte sich wieder ans Lenkrad setzen und weiterfahren.
Nach einem kurzen Kopfschütteln umrundete sie das Heck des fremden Wagens, um zur Beifahrerseite zu gelangen. Sie wollte ganz sicher sein, dass das Kind, dem die Puppe gehörte, sich nicht hinter den Wagen geduckt hatte, um sich vor den Gefahren zu verstecken, die auf der Straße nahten, vor der bösen Macht, die seine Eltern mitgenommen hatte.
Da kauerte kein Kind. Auch unter dem Wagen nicht, als Molly sich auf Hände und Knie niederließ und darunterspähte.
Die Straße hatte nur ein schmales Bankett. Es war zu einem schlüpfrigen Lehmbett geworden war, in dem sich ein
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