Todesreigen
Jacke, dazu klobige Stiefel. Das Bemerkenswerteste an ihr war in Rhymes Augen allerdings ihr Gesichtsausdruck: Carly zeigte nicht die geringste Reaktion auf seine Behinderung. Manche Leute verstummten, manche plapperten sinnlos herum, andere fixierten ausschließlich seine Augen und wirkten verzweifelt – als stelle ein Blick auf seinen Körper den Fauxpas des Jahrhunderts dar. Jede dieser Reaktionen kotzte ihn auf ihre Weise an.
Sie lächelte: »Ich mag die Dekoration.«
»Wie bitte?«, fragte Rhyme.
»Die Girlande auf der Rückseite Ihres Rollstuhls.«
Der Kriminalist drehte sich ein Stück, konnte aber nichts sehen.
»Da ist eine Girlande?«, fragte er Sellitto.
»Ja, wusstest du das nicht? Und eine rote Schleife.«
»Das muss ich der Freundlichkeit meines Betreuers verdanken«, brummte Rhyme. »Exbetreuer, wenn er so was noch mal probiert.«
Carly begann: »Ich hätte Sie und Mr. Sellitto ja nicht belästigt… Ich hätte
niemanden
belästigt, aber es kommt mir unheimlich vor, dass Mom einfach so verschwunden ist. So was hat sie noch nie getan.«
Rhyme erklärte: »In neunzig Prozent solcher Fälle stellt sich alles als Irrtum heraus. Und nicht als irgendein Verbrechen… Und es sind nur vier Stunden?« Wieder ein Seitenblick auf Sellitto. »Das ist gar nichts.«
»Bloß dass Mom, was immer man sonst über sie sagen kann, total zuverlässig ist.«
»Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?«
»Gestern Abend ungefähr um acht Uhr, glaube ich. Morgen will sie diese Party geben, für die wir Pläne gemacht haben. Ich wollte heute Morgen bei ihr vorbeischauen und eine Einkaufsliste und etwas Geld mitnehmen. Jake – das ist mein Freund – und ich wollten einkaufen und es uns dann gemütlich machen.«
»Vielleicht konnte sie keine Verbindung zu Ihrem Handy bekommen«, gab Rhyme zu bedenken. »Wo war Ihr Freund? Könnte sie bei ihm eine Nachricht hinterlassen haben?«
»Bei Jake? Nein, ich hab auf dem Weg hierher mit ihm gesprochen.« Carly zeigte ein zerknirschtes Lächeln.
»Sie findet Jake ganz in Ordnung, wissen Sie.« Nervös spielte sie mit ihren langen Haaren und drehte sie um ihre Finger. »Aber wirklich gute Freunde sind sie nicht. Er ist…« Das Mädchen entschied sich, die Details der ablehnenden Haltung nicht weiter auszuführen. »Jedenfalls würde sie nicht bei ihm anrufen. Sein Vater ist… schwierig.«
»Und heute hat sie sich freigenommen?«
»Ja.«
Die Tür öffnete sich, und Rhyme hörte, wie Amelia Sachs und Thom mit knisternden Einkaufstüten eintraten.
Die hochgewachsene Frau, mit Jeans und Bomberjacke bekleidet, trat ins Zimmer. Auf ihrem roten Haar und den Schultern lag Schnee. Sie schenkte Rhyme und Sellitto ein Lächeln. »Fröhliche Weihnachten und so weiter.«
Thom ging mit den Einkaufstüten den Flur hinunter.
»Ah, Sachs, komm rein. Es sieht so aus, als hätte Detective Sellitto unsere Dienste angeboten. Amelia Sachs, Carly Thompson.«
Die Frauen schüttelten einander die Hand.
Sellitto fragte: »Möchten Sie ein Plätzchen?«
Carly lehnte ab. Auch Sachs schüttelte den Kopf. »Ich hab sie verziert, Lon… ja, ich weiß, Santa Claus sieht aus wie Boris Karloff. Ich möchte im Leben kein Weihnachtsplätzchen mehr sehen.«
Thom erschien in der Tür, stellte sich Carly vor und ging dann in die Küche. Rhyme wusste, dass er von dort mit Erfrischungen zurückkommen würde. Ganz im Gegensatz zu Rhyme liebte sein Betreuer die Feiertage, was zu einem guten Teil daran lag, dass er beinahe täglich den Gastgeber spielen konnte.
Während Sachs die Jacke auszog und aufhängte, fasste Rhyme die Lage und die bisherigen Ausführungen des Mädchens zusammen.
Nickend nahm die Polizistin alle Fakten auf. Sie wiederholte, dass ein so kurzes Verschwinden kein Grund zur Sorge war. Aber einer Freundin von Lon und Rachel würden sie gern helfen.
»Und ob wir das wollen«, erklärte Rhyme mit einer Ironie, die allen außer Sachs entging.
Keine gute Tat bleibt ungestraft…
Carly fuhr fort: »Ich war heute Morgen ungefähr um halb neun bei ihr. Sie war nicht zu Hause. Das Auto stand in der Garage. Ich hab bei allen Nachbarn gefragt. Sie war nicht dort, und niemand hatte sie gesehen.«
»Könnte sie das Haus schon in der Nacht verlassen haben?«, fragte Sellitto.
»Nein, sie hatte heute Morgen Kaffee gekocht. Die Kanne war noch warm.«
Rhyme sagte: »Vielleicht ist etwas Unerwartetes im Büro dazwischengekommen, und sie wollte nicht mit dem Wagen zum Bahnhof fahren und hat
Weitere Kostenlose Bücher