Todesreigen
Schauplätze sein konnten, die wertvolle Informationen offenbarten. Sie war immer darauf bedacht, keine Tatortspuren zu zerstören.
Carly zog eine Grimasse, als sie bemerkte, dass der Wagen noch immer in der Garage stand.
»Ich hatte gehofft…«
Sachs musterte das Gesicht der jungen Frau und sah die blanke Sorge. Die Polizistin erkannte: Mutter und Tochter hatten eine schwierige Beziehung, das war offensichtlich. Aber die Verbindungen zu den Eltern kappt man nie völlig – das ist gar nicht möglich –, und es gibt nichts, was solche Urängste mobilisiert wie eine vermisste Mutter.
»Wir werden sie finden«, flüsterte Sachs.
Carly versuchte ein Lächeln und zog ihre Jacke fester um sich. Sie war modisch und offensichtlich teuer, aber nutzlos gegen die Kälte. Sachs hatte eine Weile als Model für Mode gearbeitet, aber wenn sie nicht gerade auf dem Laufsteg oder bei einer Fotosession war, hatte sie sich wie ein normaler Mensch gekleidet, ganz egal, was gerade modern war.
Sachs betrachtete das Haus, ein neues, geräumiges zweigeschossiges Gebäude im Kolonialstil auf einem kleinen, aber sehr gepflegten Grundstück. Sie rief Rhyme an. Bei einem richtigen Fall stand sie über ihr Motorola ständig mit ihm in Verbindung. Da dies allerdings kein offizieller Einsatz war, benutzte sie einfach ihr schnurloses Funktelefon, das an ihrem Gürtel wenige Zentimeter neben ihrer automatischen Pistole, einer Glock, befestigt war.
»Ich bin am Haus«, sagte sie. »Was ist das für Musik?«
Einen Augenblick später verstummten die Klänge von »Hark, the Herald Angels Sing«.
»Entschuldigung. Thom besteht darauf, in der richtigen
Stimmung
zu sein. Was siehst du, Sachs?«
Sie erklärte ihren Standort und die Lage des Hauses. »Der Schnee ist hier nicht allzu schlimm, aber du hattest Recht: In einer Stunde werden keine Abdrücke mehr sichtbar sein.«
»Bleib von den Gehwegen weg, und stell fest, ob irgendwer das Haus beobachtet hat.«
»Verstanden.«
Sachs fragte Carly, welche Fußabdrücke von ihr stammten. Die junge Frau erklärte, dass sie vor der Garage geparkt hatte – Sachs konnte die Abdrücke des Profils im Schnee erkennen – und dann durch die Küchentür eingetreten war.
Mit Carly im Schlepptau ging Sachs in einem Kreis um das Haus.
»Nichts hinter oder an den Seiten des Hauses, außer Carlys Fußabdrücken«, gab sie Rhyme durch.
»Es gibt keine sichtbaren Spuren, meinst du«, korrigierte Rhyme. »Das bedeutet nicht notwendigerweise ›nichts‹.«
»Okay, Rhyme, das hab ich gemeint. Verdammt, es ist kalt.«
Sie umkreisten das Haus bis zur Vorderseite. Im Schnee auf dem Pfad zwischen der Straße und dem Haus entdeckte Sachs Fußspuren. Am Bordstein hatte ein Auto gehalten. Ein Paar Fußabdrücke führte zum Haus und zwei Paar kamen wieder zurück. Das legte nahe, dass der Fahrer Susan abgeholt hatte. Sachs erstattete Rhyme Bericht. Er fragte: »Kannst du an den Schuhabdrücken irgendwas ablesen? Größe, Profil, Verteilung des Gewichts?«
»Nichts Eindeutiges.« Sie zuckte zusammen, als sie sich bückte; ihre arthritischen Gelenke schmerzten in der Kälte und Feuchtigkeit. »Aber eine Sache ist merkwürdig – sie liegen ganz eng beieinander.«
»Als ob einer von ihnen den Arm um die andere Person gelegt hätte.«
»Genau.«
»Könnte Zuneigung bedeuten. Könnte auch Zwang bedeuten. Wir wollen einmal annehmen – hoffen –, dass das zweite Paar Abdrücke von Susan stammt und dass sie, was immer passiert sein mag, wenigstens am Leben ist. Oder vor ein paar Stunden noch war.«
Dann bemerkte Sachs eine auffällige Einkerbung im Schnee in der Nähe eines der vorderen Fenster. Es sah aus, als hätte jemand den Bürgersteig verlassen und sich auf den Boden gekniet. Von dieser Stelle aus hatte man einen unverstellten Blick ins Wohnzimmer und die dahinter liegende Küche. Sie schickte Carly los, die Eingangstür aufzuschließen, und flüsterte dann ins Funktelefon: »Wir haben möglicherweise ein Problem, Rhyme… Sieht aus, als hätte sich jemand hingekniet und durchs Fenster ins Haus geschaut.«
»Irgendwelche anderen Hinweise dort, Sachs? Erkennbare Abdrücke, Zigarettenstummel, andere Spuren?«
»Nichts.«
»Überprüf das Haus, Sachs. Und, bloß zum Spaß, tu so, als wäre es ein heißer Tatort.«
»Aber wie könnte ein Täter sich jetzt noch im Haus aufhalten?«
»Tu einfach, was ich dir sage.«
Die Polizistin blieb an der Eingangstür stehen und zog den Reißverschluss ihrer Jacke hinunter,
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