Todesreigen
Betreuer, und Amelia Sachs, die Partnerin des Kriminalisten, waren auf Einkaufstour. In ihrer Gegenwart wäre Rhymes Getränk sicher schmackhaft, aber – angesichts der Uhrzeit – zweifellos nichtalkoholisch ausgefallen.
»Also gut. Hier kommt die Geschichte: Rachel ist eine Freundin von Susan und ihrer Tochter.«
Um eine gute Tat für Freunde der Familie ging es also. Rachel war Sellittos Freundin. Rhyme sagte: »Und die Tochter heißt Carly. Siehst du, ich
hab
zugehört, Lon. Sprich weiter.«
»Carly…«
»Wer ist wie alt?«
»Sie ist neunzehn. Studentin an der NYU. Betriebswirtschaft. Sie ist mit einem Typen aus Garden City zusammen…«
»Ist irgendetwas davon wichtig, außer ihrem Alter? Von dem ich nicht mal sicher bin,
dass
es wichtig ist.«
»Sag mal, Linc: Bist du an Feiertagen immer so gut gelaunt?«
Noch ein Schluck Whisky. »Rede weiter.«
»Susan ist geschieden und arbeitet für eine Werbeagentur in der City. Sie wohnt draußen im Nassau County…«
»Nassau? Nassau? Könnte
möglicherweise
die Polizei dort draußen die richtige Adresse für die Angelegenheit sein? Du verstehst doch, wie das funktioniert? Dieser Kurs über Zuständigkeiten an der Akademie…«
Sellitto hatte jahrelang mit Lincoln Rhyme zusammengearbeitet und besaß einige Erfahrung darin, die Ruppigkeiten des Kriminalisten an sich abprallen zu lassen. Er ignorierte den Kommentar und fuhr unbeirrt fort: »Sie nimmt ein paar Tage frei, um das Haus für die Feiertage herzurichten. Rachel meint, dass Susan mit ihrer Tochter eine typische Problem-Phase durchmacht – du weißt schon, die beiden kommen schwer miteinander klar. Aber Susan gibt sich
Mühe
. Sie will es dem Mädchen einfach schön machen, eine große Weihnachtsparty. Jedenfalls wohnt Carly in einem Apartment im Village, in der Nähe der Uni. Gestern Abend erklärt sie ihrer Mutter, dass sie heute Morgen vorbeikommen und ein paar Sachen bringen will, ehe sie zu ihrem Freund fährt. Susan sagt, gut, dann können sie zusammen Kaffee trinken, bla bla bla… Bloß, als Carly dort auftaucht, ist Susan nicht da. Und ihr…«
»…Auto steht noch in der Garage.«
»Genau. Also wartet Carly eine Zeit lang, aber Susan erscheint nicht. Also ruft sie die Jungs vor Ort an, aber niemand will etwas unternehmen, ehe sie nicht mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst wird. Da erinnert Carly sich an mich – ich bin der einzige Cop, den sie kennt – und ruft Rachel an.«
»Wir können nicht für jeden eine gute Tat vollbringen. Nur weil es gerade zur Jahreszeit passt.«
»Lass uns dem Mädchen ein Weihnachtsgeschenk machen, Linc. Stell ein paar Fragen, schau dir das Haus an.«
Rhyme hatte ein missmutiges Gesicht aufgesetzt, aber in Wirklichkeit war er fasziniert. Wie er Langeweile hasste… Und tatsächlich war er während der Feiertage oft schlechter Stimmung – denn es lag immer eine willkommene Zerstreuung in den anregenden Fällen, zu denen ihn das NYPD oder das FBI als Berater oder forensischen Wissenschaftler hinzuzogen, als »Kriminalisten«, wie es im Fachjargon hieß.
»Also… Carly ist völlig durcheinander, verstehst du?«
Rhyme zuckte die Schultern, eine der wenigen körperlichen Ausdrucksformen, die ihm nach dem einige Jahre zurückliegenden Unfall an einem Tatort, der ihn zum Tetraplegiker gemacht hatte, noch möglich waren. Dann glitt Rhyme mit seinem einen funktionierenden Finger über das Steuerungsfeld und bewegte den Rollstuhl damit so, dass er Sellitto direkt gegenübersaß. »Wahrscheinlich ist ihre Mutter inzwischen zu Hause. Aber wenn du unbedingt darauf bestehst, lass uns das Mädchen anrufen. Ich werde ein paar Fakten sammeln und mir eine Meinung bilden. Was kann das schon schaden?«
»Großartig, Linc. Warte einen Moment.« Der hochgewachsene Detective ging zur Tür und öffnete sie.
Was war das?
Ein Mädchen im Teenageralter trat ein und schaute sich vorsichtig um.
»Oh, Mr. Rhyme, hallo. Ich bin Carly Thompson. Herzlichen Dank, dass Sie mich empfangen.«
»Ah, Sie haben draußen gewartet«, sagte Rhyme und bedachte den Detective mit einem scharfen Blick. »Hätte mein Freund Lon hier mich früher eingeweiht, dann hätte ich Sie auf eine Tasse Tee eingeladen.«
»Oh, schon gut. Ich möchte nichts.«
Sellitto zog vergnügt eine Augenbraue hoch und holte einen Stuhl für das Mädchen.
Sie hatte langes blondes Haar, eine athletische Figur und war kaum geschminkt. Ihre Kleidung orientierte sich am MTV-Chic: ausgestellte Jeans und schwarze
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