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Todesreigen

Titel: Todesreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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unser Vater starb, haben Steve und ich das Erbe aufgeteilt. Er hat die meisten Familienstücke bekommen, was mir wirklich wehgetan hat. Aber immerhin habe ich die Vögel bekommen.«
    Harry wusste, dass ihre Mutter vor zehn und ihr Vater vor drei Jahren gestorben waren. Der Vater war sehr streng gewesen und hatte Patsys älteren Bruder Stephen vorgezogen. Ihr gegenüber hatte er sich in jeder Phase ihres Lebens herablassend verhalten.
    »Ich besitze vier Stück. Ursprünglich waren es fünf, aber ich habe einen zerbrochen, als ich zwölf Jahre alt war. Ich lief ins Haus – ich war sehr aufgeregt wegen irgendetwas, das passiert war, und wollte es meinem Vater erzählen – und stieß dabei gegen den Tisch, wobei ein Vogel herunterfiel. Der Spatz. Er zerbrach in mehrere Stücke. Mein Vater versohlte mir den Hintern mit einer Weidengerte und schickte mich ohne Abendessen ins Bett.«
    Ah, ein prägendes Ereignis. Harry machte sich eine Notiz, entschloss sich aber, diesen Vorfall im Augenblick nicht weiter zu verfolgen.
    »Und?«
    »Am Morgen, nachdem ich den Geist meines Vaters zum ersten Mal gehört habe…«
    Ihre Stimme wurde hart. »Ich meine, an dem Morgen, nachdem
Peter
mit diesem Flüstern begonnen hat… fand ich einen der Vögel zerbrochen auf dem Wohnzimmerboden. Ich fragte Peter, warum er das getan hätte – er weiß schließlich, wie viel sie mir bedeuten. Aber er stritt es ab. Er sagte, wahrscheinlich wäre ich schlafgewandelt und hätte ihn selbst heruntergestoßen. Ich weiß aber, dass es nicht so war. Es muss Peter gewesen sein.« Wieder verfiel sie in diese raue, irrationale Stimme.
    Harry schaute auf die Uhr. Er hasste das Erbe der Psychoanalytiker: die perfekt abgegrenzte Fünfzig-Minuten-Stunde. Es gab immer so vieles, mit dem er sich gern noch ausführlicher befasst hätte. Doch die Patienten brauchten Verlässlichkeit und, der alten Schule gemäß, auch Disziplin. Er sagte: »Es tut mir Leid, aber ich sehe, dass unsere Zeit um ist.«
    Patsy erhob sich pflichtgemäß. Harry bemerkte, wie unordentlich ihr Äußeres wirkte. Natürlich war das Make-up perfekt, doch ihre Bluse hatte sie nicht ordentlich geknöpft. Entweder hatte sie sich in aller Eile angezogen, oder sie hatte nicht darauf geachtet. Auch der Schnürsenkel einer ihrer teuren braunen Schuhe war nicht gebunden.
    Sie stand auf. »Danke, Doktor… Es tut gut, einfach mit jemandem darüber sprechen zu können.«
    »Wir werden das alles klären. Ich sehe Sie dann in einer Woche.«
    Nachdem Patsy die Praxis verlassen hatte, nahm Harry Bernstein an seinem Schreibtisch Platz. Er drehte sich langsam mit seinem Stuhl und betrachtete seine Bücher – das
DSM-IV
,
Die Psychopathologie des Alltagslebens
, das APA-
Handbuch der Neurosen
, Bände von Freud, Adler, Jung, Karen Horney und Hunderte andere. Dann schaute er wieder aus dem Fenster und sah, wie das Licht der spätnachmittäglichen Sonne auf Autos und Taxis fiel, die auf der Park Avenue Richtung Norden fuhren.
    Ein Vogel flog vorbei.
    Er dachte an den zerbrochenen Keramikspatz aus Patsys Kindheit.
    Und Harry dachte: Was für eine bemerkenswerte Sitzung.
    Nicht nur für seine Patientin. Sondern auch für ihn.
    Patsy Randolph, die bis zum heutigen Tag nur eine von vielen leicht unzufriedenen Patientinnen im mittleren Alter gewesen war, bedeutete einen Wendepunkt für Dr. Harold David Bernstein. Er befand sich in einer Position, aus der heraus er ihr Leben völlig verändern konnte.
    Und nebenbei konnte er vielleicht auch sein eigenes Leben retten.
    Harry lachte laut auf und brachte seinen Stuhl abermals zum Rotieren wie ein Kind auf dem Spielplatz. Einmal, zweimal, dreimal.
    Im Türrahmen erschien eine Gestalt. »Doktor?«
    Miriam, seine Sekretärin, legte ihren von widerspenstigem weißen Haar bedeckten Kopf schief. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Mir geht’s gut. Warum fragen Sie?«
    »Na ja, es ist bloß… Ich glaube, ich habe Sie seit längerer Zeit nicht mehr lachen hören. Ich glaube, ich habe Sie noch
nie
in Ihrer Praxis lachen hören.«
    Das war ein weiterer Grund zum Lachen. Und er lachte.
    Sie runzelte die Stirn, ihre Augen wirkten besorgt.
    Harry hörte auf zu lächeln und schaute sie ernsthaft an. »Hören Sie, ich möchte, dass Sie sich den Rest des Tages freinehmen.«
    Sie wirkte verblüfft. »Aber… es ist Feierabend, Doktor.«
    »Scherz!«, erklärte er. »Das war ein Scherz. Bis morgen.«
    Miriam betrachtete ihn vorsichtig und scheinbar unfähig, den fragenden Ausdruck aus

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