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Todesreigen

Titel: Todesreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Hinsicht ein Idealist, doch war ihm stets bewusst gewesen, dass Linda ihn auf der Stelle verlassen würde, sobald er eine Vollzeitstelle in Brooklyn annähme.
    Die Ironie lag allerdings darin, dass selbst
nachdem
Linda ihn verlassen hatte – wegen jemandem, den sie bei einer dieser Wohltätigkeitsveranstaltungen kennen gelernt hatte, zu deren Besuch Harry sich nie hatte überwinden können –, er nicht mehr Zeit in der Klinik verbringen konnte als während seiner Ehe. Die Schulden, die Linda in dieser Zeit angehäuft hatte, waren enorm. Seine ältere Tochter besuchte ein teures College, und die jüngere würde er im nächsten Jahr aufs Vassar schicken.
    Und nun tauchte, zwischen Dutzenden von Patienten, die über kleinere Unzufriedenheiten jammerten, Patsy Randolph auf, eine wahrhaft verzweifelte Patientin: Eine Frau, die ihm von Geistern erzählte und ihrem Mann, der sie in den Wahnsinn treiben wollte. Eine Frau, die wirklich auf der Kippe stand.
    An diesem Tag war ihm sein Abendessen egal. Er kam nach Hause und ging geradewegs in sein Arbeitszimmer, wo sich auf mehreren Stapeln die Fachzeitschriften des letzten Jahres angesammelt hatten, die zu lesen er sich nicht die Mühe gemacht hatte, weil sie ernsthafte psychiatrische Themen diskutierten und wenig mit den Fällen in seiner eigenen Praxis zu tun hatten. Er schleuderte seine Schuhe von sich und fing an, die Zeitschriften durchzublättern und sich Notizen zu machen. Er fand Internetseiten, die sich mit psychotischem Verhalten auseinander setzten, und verbrachte Stunden online, um sich Artikel herunterzuladen, die ihm im Hinblick auf Patsys Situation weiterhelfen konnten.
    Gerade las Harry einen obskuren Artikel im
Journal der Psychosen
zum zweiten Mal, stolz und aufgeregt, ihn aufgestöbert zu haben, denn er lieferte den Schlüssel zum Umgang mit ihrem Fall. In diesem Moment schreckte ihn ein schrilles Pfeifen auf. Er war beschäftigt gewesen… Hatte er vielleicht vergessen, dass er den Wasserkessel aufgesetzt hatte, um sich einen Kaffee zu machen? Dann aber schaute er durchs Fenster und stellte fest, dass nicht der Kessel gepfiffen hatte. Das Geräusch stammte von einem Vogel, der auf einem Ast nahe am Fenster saß. Es war kurz nach Sonnenaufgang.
    In ihrer nächsten Sitzung sah Patsy schlimmer aus als in der Woche zuvor. Ihre Kleider waren nicht gebügelt. Ihre Haare waren verfilzt und offenbar seit mehreren Tagen nicht gewaschen worden. Ihre Bluse war schmutzverschmiert und am Kragen eingerissen, wie übrigens auch ihr Rock. Laufmaschen zogen sich an ihren Strümpfen entlang. Nur auf ihr Make-up hatte sie Sorgfalt verwendet.
    »Hallo, Doktor«, sagte sie mit leiser Stimme. Sie klang ängstlich.
    »Hi, Patsy, kommen Sie herein… Nein, heute nicht auf die Couch. Setzen Sie sich mir gegenüber hin.«
    Sie zögerte. »Warum?«
    »Ich denke, wir sollten unsere übliche Arbeit zurückstellen und uns mit dieser Krise beschäftigen. Mit den Stimmen. Ich würde Sie gern von Angesicht zu Angesicht sehen.«
    »Krise«, wiederholte sie misstrauisch und nahm in dem bequemen Sessel gegenüber seinem Schreibtisch Platz. Sie verschränkte die Arme und schaute aus dem Fenster – dies waren körpersprachliche Signale, die Harry gut kannte. Sie zeigten, dass sie nervös war und sich in der Defensive wähnte.
    »Nun, was ist passiert, seit ich Sie zuletzt gesehen habe?«, fragte er.
    Sie fing an zu reden. Wieder hatte sie Stimmen gehört – ihr Ehemann tat weiterhin so, als wäre er der Geist ihres Vaters, der ihr schreckliche Dinge zuflüsterte. Was, fragte Harry, hatte der Geist denn gesagt? Sie antwortete: Dass sie eine böse Tochter gewesen wäre und heute eine schlechte Ehefrau und oberflächliche Freundin sei. Warum sie sich nicht einfach umbrächte, um den Menschen um sie herum endlich keine Schmerzen mehr zuzufügen?
    Harry notierte sich etwas. »Klang die Stimme wie die Ihres Vaters? Der Tonfall, meine ich.«
    »Sie klang nicht wie mein
Vater
«, erklärte sie mit vor Ärger bebender Stimme. »Es war mein
Mann
, der so tat, als wäre er mein Vater. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
    »Ich weiß. Aber ich meine den Klang. Das Timbre.«
    Sie dachte nach. »Vielleicht. Aber mein Mann ist ihm schließlich begegnet. Und es gibt Videos von Dad. Peter muss sie angehört und ihn dann imitiert haben.«
    »Wo war Peter, als Sie ihn gehört haben?«
    Ihr Blick blieb an einem der Bücherregale haften. »Eigentlich war er nicht zu Hause.«
    »Nein?«
    »Nein. Er war

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