Todesreigen
irgendwie nach Peters Stimme. Und überhaupt, wer sonst hätte es sein können?« Sie lachte, und ihre Stimme klang fast wie ein Gackern. »Ich meine, es kann wohl kaum der Geist meines Vaters gewesen sein, oder?«
»Vielleicht hat er bloß im Schlaf gesprochen.«
Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete: »Sehen Sie, das ist es ja. Er war nicht im Bett. Er war in seinem Arbeitszimmer und hat irgendein Videospiel gespielt.«
Harry machte sich weiterhin Notizen.
»Und Sie konnten ihn im Arbeitszimmer hören?«
»Er muss an der Tür gewesen sein… Oh, Doktor, es klingt lächerlich. Das ist mir klar. Aber ich glaube, er hat neben der Tür gekniet und geflüstert… Das Arbeitszimmer liegt gleich neben dem Schlafzimmer.«
»Sind Sie zu ihm hinübergegangen? Haben Sie ihn darauf angesprochen?«
»Ich bin ganz schnell zur Tür gegangen, aber als ich sie öffnete, saß er schon wieder an seinem Schreibtisch.« Sie schaute auf ihre Hände und registrierte, dass sie das Papiertaschentuch zerrupft hatte. Sie blickte zu Harry hinüber, um festzustellen, ob er diese zwanghafte Handlung bemerkt hatte. Natürlich hatte er das. Sie stopfte das Kleenex in die Tasche ihrer teuren beigefarbenen Hose.
»Und dann?«
»Ich fragte, ob er etwas gehört hätte. Irgendwelche Stimmen. Er hat mich angeschaut, als wäre ich durchgedreht, und sich wieder seinem Videospiel gewidmet.«
»Haben Sie in dieser Nacht noch andere Stimmen gehört?«
»Nein.«
Harry musterte seine Patientin. Er vermutete, dass sie in ihrer Jugend ein hübsches Mädchen gewesen war, denn heute war sie eine schöne Frau. (Therapeuten sahen
immer
das Kind im Erwachsenen.) Ihr Gesicht wirkte elegant, und sie hatte die leicht nach oben weisende Nase einer Angehörigen der feineren Gesellschaft Connecticuts, die lange und hart mit sich ringt, ob sie eine Nasenkorrektur vornehmen lassen will, es aber letztlich doch nicht tut. Wie er sich erinnerte, hatte Patsy ihm einmal erklärt, dass sie nie Probleme mit dem Gewicht hatte: Sobald sie fünf Pfund zugenommen hatte, engagierte sie einen Fitnesstrainer. Sie erwähnte – mit einer Irritiertheit, hinter der sich heimlicher Stolz verbarg –, dass Männer häufig versuchten, sie in Bars und Coffeeshops anzumachen.
»Sie sagen, es ist schon früher passiert?«, fragte er. »Dass Sie diese Stimme gehört haben?«
Wieder ein Zögern. »Vielleicht zwei oder drei Mal. Alles in den letzten paar Wochen.«
»Aber welchen Grund hätte Harry, Sie in den Wahnsinn zu treiben?«
Patsy, die zu Harry mit den klassischen Symptomen einer normalen Midlife-Crisis gekommen war, hatte bisher wenig über ihren Mann gesprochen. Harry wusste, dass er gut aussah, einige Jahre jünger als sie und nicht besonders ehrgeizig war. Sie waren seit drei Jahren verheiratet – beide zum zweiten Mal – und schienen wenig gemeinsame Interessen zu haben. Aber natürlich war das nur Patsys Version. Die »Fakten«, die in der Praxis eines Therapeuten enthüllt werden, können ziemlich zweifelhaft sein. Harry Bernstein gab sich große Mühe, einen menschlichen Lügendetektor zu spielen. Sein Eindruck von Patsys Ehe ging dahin, dass es zwischen Mann und Frau eine Menge unausgesprochener Konflikte gab.
Patsy dachte über seine Frage nach. »Ich weiß nicht. Ich habe mit Sally gesprochen…«
Harry erinnerte sich, dass sie ihre beste Freundin Sally erwähnt hatte. Auch sie war eine typische Upper-East-Side-Matrone, eine der Damen, die zum Lunch einluden. Und sie war mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden einer der größten New Yorker Banken verheiratet. »Sie sagte, Peter wäre vielleicht eifersüchtig auf mich. Ich meine, schauen Sie uns an… Ich bin diejenige mit einem gesellschaftlichen Leben. Ich habe die Freunde, ich habe das Geld…«
Er registrierte den manischen Klang ihrer Stimme. Sie registrierte ihn ebenfalls und brachte ihn unter Kontrolle. »Ich habe keine Ahnung, warum er das tut. Aber er tut es.«
»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«
»Ich habe es versucht. Aber natürlich streitet er alles ab.« Sie schüttelte den Kopf, und abermals stiegen Tränen in ihre Augen. »Und dann… die Vögel.«
»Vögel?«
Ein weiteres Kleenex wurde herausgezupft, benutzt und zerfetzt. Diesmal versteckte sie das Beweismaterial nicht. »Ich besitze eine Sammlung von Keramikvögeln. Von Boehm. Haben Sie von dieser Firma schon gehört?«
»Nein.«
»Sie sind sehr teuer und kommen aus Deutschland. Wunderschön gemacht. Sie gehörten meinen Eltern. Als
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