Todesreigen
ihrem Gesicht zu vertreiben. »Und es ist wirklich alles in Ordnung?«
»Mir geht’s prima. Gute Nacht.«
»Nacht, Doktor.«
Im nächsten Moment hörte er die Praxistür mit einem Klicken ins Schloss fallen.
Er drehte sich noch einmal auf dem Stuhl herum und dachte: Patsy Randolph… Ich kann dich retten, und du kannst mich retten.
Und Dr. Harry Bernstein war ein Mann, der Rettung bitter nötig hatte.
Weil er das, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, hasste.
Nicht den Aspekt, Patienten mit ihren seelischen und emotionalen Problemen zu helfen – oh, er war der geborene Therapeut, es konnte keinen besseren geben. Was er hasste, war diese Upper-East-Side-Psychiatrie. Es war das Letzte, was er jemals hatte tun wollen. Dann aber, in seinem zweiten Jahr auf der Columbia Medical School, war der hochgewachsene, gut aussehende Student einer hochgewachsenen, schönen Projektreferentin des Museum of Modern Art begegnet. Noch vor seinem praktischen Jahr hatten Harry und Linda geheiratet. Er verließ seine Wohnung im fünften Stock – kein Aufzug – in der Nähe von Harlem und zog in ihr Stadthaus in der östlichen Eighty-first Street. Innerhalb weniger Wochen hatte sie damit begonnen, sein Leben umzukrempeln. Linda war eine Frau, die hohe Ziele für ihren Ehemann hatte (ganz ähnlich wie Patsy, hinter deren vor einigen Wochen beiläufig geäußertem Kommentar über den fehlenden Ehrgeiz ihres Mannes Harry einen tiefen Zorn gespürt hatte). Linda wollte Geld, sie wollte auf der Gästeliste bei allen Wohltätigkeitskonzerten in der Met stehen, sie wollte in Vier-Sterne-Restaurants in Eze und Monaco und Paris verwöhnt werden.
Als fleißiger, gelassener Mann aus einem bescheidenen Vorort New Yorks wusste Harry, dass er, wenn er auf Linda hörte, sich in die falsche Richtung bewegen würde. Da er aber verliebt in sie war, hörte er auch weiterhin auf sie. Sie kauften ein Apartment in einem Hochhaus an der Madison Avenue, und er hängte sein Schild (na ja, eine schwere Messingtafel) außen an diese Dreitausend-Dollar-im-Monat-Praxis an der Kreuzung Park Avenue und Seventy-eighth Street.
Zuerst hatte sich Harry angesichts der astronomischen Rechnungen, die sie anhäuften, Sorgen gemacht. Doch schon bald begann das Geld zu fließen. Er hatte keine Probleme, Patienten zu finden; es herrscht kein Mangel an Neurosen – und gut Versicherten – unter den Reichen auf der Halbinsel Manhattan. Außerdem war er sehr gut in seiner Arbeit. Seine Patienten kamen, mochten ihn und kehrten deshalb gern Woche für Woche zurück.
Niemand versteht mich natürlich haben wir Geld aber Geld ist nicht alles und neulich hat mich meine Haushälterin angesehen als käme ich von einem anderen Stern und es ist nicht meine Schuld und ich werde so wütend wenn meine Mutter ausgerechnet an meinem freien Tag einkaufen gehen will und ich glaube Samuel trifft sich heimlich mit jemandem und ich glaube mein Sohn ist schwul und ich werde diese fünfzehn Pfund einfach nicht los…
Ihre Nöte mochten plebejisch sein, manchmal sogar lachhaft unbedeutend, doch sein Eid und sein Charakter ließen es nicht zu, dass Harry sie gering schätzte. Er gab sich jede Mühe, seinen Patienten zu helfen.
Und während der ganzen Zeit verleugnete er das, was er eigentlich tun wollte. Nämlich Menschen mit schweren seelischen Störungen zu behandeln. Paranoide Schizophrene, Menschen mit bipolarer Depression und Borderline-Persönlichkeiten; Menschen, die ein Leben voller Leid führten und sich diesem Leid nicht mit all dem Geld entziehen konnten, das Harrys Patienten besaßen.
Von Zeit zu Zeit hatte er freiwillig in verschiedenen Kliniken geholfen – vor allem in einer kleinen Einrichtung in Brooklyn, in der obdachlose Männer und Frauen behandelt wurden. Aber neben seinen Park-Avenue-Fällen und dem strengen Regiment seiner Frau, was soziale Verpflichtungen betraf, war ihm nie viel Zeit geblieben, die er der Klinik widmen konnte. Er hatte mit dem Gedanken gerungen, seine Praxis in der Park Avenue einfach zu schließen. Natürlich wäre sein Einkommen um neunzig Prozent gefallen, wenn er das wirklich getan hätte. Er und Linda hatten einige Jahre nach ihrer Hochzeit zwei Kinder bekommen, zwei süße Töchter, die Harry sehr liebte und deren Bedürfnissen, ausgesprochen
kostspieligen
Bedürfnissen, wie Privatschulen sie mit sich brachten, er eine höhere Priorität eingeräumt hatte als seiner eigenen Zufriedenheit. Abgesehen davon war er sicher in vielerlei
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