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Todesreigen

Titel: Todesreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Stunden und Stunden mit Nichtstun. Sitzt einfach da und guckst auf den Fluss.« Er legte eine Pause ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Warum hast du das gemacht?«, fragte er neugierig.
    »Ich weiß nicht.«
    Dabei kannte jeder in der Stadt die Antwort. Dass nämlich seine Eltern, während er die Junior High School besucht hatte, bei einem Bootsunfall auf ebendem Fluss ertrunken waren, den der Junge nun den ganzen Tag vor sich hatte, wenn er seine Bücher und Zeitschriften las (Frances vom Postamt sagte, er hätte ein paar
entsetzlich
abgedrehte Magazine abonniert, über die sie aber als Bundesbedienstete und so weiter nicht mehr sagen durfte) und irgendwelche irre, zu laute Musik hörte. Nach dem Tod seiner Eltern war ein Onkel in den Ort gezogen, um bei dem Jungen zu wohnen – ein schleimiger alter Kerl aus West Virginia (na ja, die ganze Stadt hatte sich ihr Bild von
diesem
Arrangement gemacht). Er hatte den Jungen durch die High School gebracht, und gleich nach Nates achtzehntem Geburtstag war der Junge aufs College verschwunden. Vier Jahre später hatten Ed und Boz ihren Militärdienst abgeleistet, es dabei so weit gebracht, wie es ihnen eben möglich war, und waren dann nach Hause zurückgekehrt. Und wer tauchte in jenem Juni auf und überraschte sie und die ganze Stadt? Ja, Nate. Er gab seinem Onkel einen Tritt, schickte ihn zurück in den Westen und lebte seitdem ganz allein in dem düsteren, unheimlichen Haus oberhalb des Flusses. Man vermutete, dass er von den Ersparnissen seiner Eltern lebte (niemand in Caldon häufte jemals etwas an, das die Bezeichnung
Erbschaft
verdient hätte).
    Während der High-School-Zeit hatten die Deputys Nate nicht gemocht. Weder die Art, wie er sich kleidete, noch wie er redete oder seine Haare nicht kämmte (die zu verdammt lang waren, beängstigend lang). Sie mochten es nicht, wie er mit den anderen Jungs sprach, in diesem kranken Flüsterton. Mochten es nicht, wie er mit Mädchen redete, nicht auf die normale Art, indem man Witze machte oder Klatsch austauschte. Stattdessen
unterhielt
er sich mit ihnen auf diese komische leise Art, die sie zu hypnotisieren schien. Er war im Französischclub gewesen. Er war im Computerclub gewesen. Im Schachclub, um Himmels willen. Natürlich betrieb er keine einzige Sportart, und man musste bloß an die vielen Male im Unterricht denken, wenn niemand Mrs. Ständers Fragen beantworten konnte und Nate – in der Schule hatte der Flachwichser ein paar Jahre übersprungen – dann zur Tafel stolzierte und in seiner Schwuchtelschrift die richtige Antwort hinschrieb, wobei er sich von oben bis unten mit Kreide versaute. Dann drehte er sich zur Klasse um, und alle hörten auf zu kichern, wegen seiner gruseligen Augen. Natürlich wurde oft auf ihm herumgehackt. Einmal hatte jemand seine Turnschuhe zusammengebunden und über die Hochspannungsleitung geworfen. Aber wem passierte das nicht? Außerdem hatte er es nicht besser verdient. Ständig hockte er auf seiner Veranda, las Bücher (wahrscheinlich pornographische) und hörte diese unheimliche (wahrscheinlich satanische, wie ein anderer Deputy vermutet hatte) Musik… alles in allem war er einfach unnatürlich.
    A propos natürlich: Jedes Mal, wenn ein Bericht über ein Sexualverbrechen hereinkam, dachten Boz und Ed an Nate. Sie hatten ihm nie etwas beweisen können, doch er verschwand immer wieder für längere Zeit. Die Deputys waren sich darüber einig, dass er sich dann in den Wäldern und Feldern um Luray herumtrieb, um Blicke in die Schlafzimmerfenster junger Mädchen (oder wahrscheinlicher: Jungen) zu werfen. Sie wussten, dass Nate ein Voyeur war; auf seiner Veranda stand ein Fernrohr, direkt neben dem Schaukelstuhl, in dem er immer saß (oh ja, auch
darüber
hatte sich die ganze Stadt ihr Bild gemacht). Unnatürlich. Ja, das war das richtige Wort.
    Folglich ließen die Deputys des Sheriffbüros von Caldon – vor allem Ed und Boz – keine Gelegenheit aus, wenn sie etwas tun konnten, um Nate, na ja, auf die richtige Bahn zu bringen. Genau wie sie es schon auf der High School gemacht hatten. Wenn sie ihn zum Beispiel beim Gemüsekaufen antrafen, lächelten sie und fragten: »Brauchst du Hilfe?« Was so viel hieß wie: Warum heiratest du nicht, Homo?
    Oder wenn er mit dem Fahrrad den Rayburn Hill hinauffuhr und sie ihm in ihrem Straßenkreuzer folgten. Dann schalteten sie die Sirene ein und brüllten über den Lautsprecher: »Pass auf, links von dir!« Einmal war er vor Schreck

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