Todesreim : Hachenberg und Reiser ermitteln (German Edition)
entsorgt hatte und ihr die Möglichkeit gab, sich zu erinnern. Gerührt wischte sie sich eine Träne von der Wange. In diesem Moment fragte sie sich zerstreut, wer denn bloß diese betagte Dame mit den zerzausten Haaren sei, die ihr so melancholisch entgegenblickte, um dann erschreckt festzustellen, dass es sich um ihr eigenes Antlitz handelte. Sie war nicht im Geringsten überrascht, als sie bemerkte, dass Eduard plötzlich hinter ihrem Spiegelbild auftauchte und sie mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte.
„Ist ja schon gut, Eduard“, sagte sie zu ihm. „Du hast ja recht. Meine Haare haben schon lange keine Schere mehr gesehen, es wird Zeit, ich gehe zum Friseur. Hoffentlich erkennst du mich hinterher noch wieder!“ So schnappte sie sich ihre überdimensionale Handtasche und machte sich auf den Weg in die Stadt.
Du meine Güte , dachte sie verwirrt, als sie feststellen musste, dass das Angebot an Friseurgeschäften ihre Erwartungen bei Weitem übertreffen würde. Wie soll man sich denn da entscheiden? Ziemlich spontan wählte sie den erstbesten und betrat mit gemischten Gefühlen den Damensalon. Im ersten Moment glaubte sie, das Geschäft hätte noch geschlossen, denn außer einer jungen Frau war niemand anwesend. Gerade als sie den Salon wieder verlassen wollte, sprach die Frau sie an:
„Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie freundlich und lächelte Molly verschmitzt an.
„Es tut mir leid“, antwortete Molly mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme. „Ich bin zu früh, nicht wahr?“ Sie war sich keineswegs sicher, ob sie nicht doch schnell wieder das Weite suchen sollte. Doch dann fiel ihr Blick erneut auf ihr Spiegelbild und sie musste sich verschämt eingestehen, dass es allerhöchste Zeit war, etwas zu ändern.
„Sie sind genau richtig.“ Die junge Frau nahm ihren Arm und bat sie, Platz zu nehmen. „Ich heiße Tina“, stellte sie sich vor, „würden Sie mir Ihren Namen auch verraten?“
Molly fasste Vertrauen zu dieser netten jungen Dame und merkte, wie die Anspannung langsam von ihr glitt. „Hazelwood, mein Name ist Hazelwood, mein Mann ist Engländer.“ Voller Erwartung blickte sie in Tinas hübsches Gesicht.
„Darf ich ehrlich zu Ihnen sein, Frau Hazelwood? Aber das mit Ihren Haaren hier“, sie zeigte belustigt auf Mollys Dutt, „das ist ziemlich, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber das ist ziemlich furchtbar.“
Diese Worte, so unbefangen und salopp dahingesagt, fand Molly, waren eindeutig die lustigsten, die sie seit ihrer Ankunft in Heiligenburg gehört hatte. Befreit lachte sie auf.
„Da haben Sie vollkommen recht, meine Liebe, und mein Gatte Eduard war da ganz Ihrer Meinung.“
Tina lächelte.
„Dann wollen wir Ihren Gatten auf keinen Fall enttäuschen, was schwebte ihm denn so vor?“
Molly antwortete prompt, ohne überhaupt darüber nachzudenken:
„Stufig, fransig, ineinander übergehend. Können Sie damit etwas anfangen? Und vielleicht ein bisschen Farbe?“
„Wunderbar, lassen Sie mich nur machen. Wir werden Sie wieder in eine englische Rose verwandeln!“, meinte Tina ein wenig übertrieben und machte sich sogleich voller Begeisterung an die Arbeit.
Es war Molly nicht entgangen, dass kein weiterer Kunde seit ihrer Ankunft den Salon betreten hatte und sie sprach die junge Frau darauf an.
„Ich kann es den Leuten nicht übel nehmen, wenn sie Angst haben, vor die Tür zu gehen“, meinte Tina zaghaft und senkte ihre Stimme, als ob sie befürchtete, belauscht zu werden. „Nach allem, was geschehen ist. Die zwei Jungs, ermordet. Das Feuer im Wald und nun auch noch ein Mordanschlag auf diesen jungen Politiker. Wie heißt er noch gleich? Phillip Richter, genau. Ich habe es eben in den Nachrichten gehört. Es heißt, er sei schwer verletzt, aber wenigstens ist er am Leben.“ Sie beugte sich zu Molly herunter und flüsterte in ihr Ohr: „Und der Mörder, Frau Hazelwood, er läuft immer noch frei herum.“
E s war kurz nach elf, als sie auf dem Kommissariat eintrafen. Niemand von ihnen hatte Zeit für eine Dusche, geschweige denn eine Runde Schlaf gehabt nach dieser ereignisreichen Nacht.
Reiser holte sich einen Milchkaffee am Automaten, bevor er sich auf den Weg in den Besprechungsraum im zweiten Stock machte. Simon war bereits eingetroffen und stand vor einer der zwei Wandtafeln, die sich an der rückwärtigen Seite des Raumes befanden. In der einen Hand hielt er seinen Becher Kaffee, mit der anderen klebte er kleine gelbe Zettel an
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