Todesrennen
erfahrener Schütze es sicherlich bemerkt und korrigiert, selbst wenn er sich dazu auf Kimme und Korn seiner Waffe hätte verlassen müssen. Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dachte Bell, dass er zwei Mal danebenschoss. Die Kugel im Baum könnte jener erste Schuss gewesen sein, der laut Josephine Celere gestreift, aber nicht getötet hatte. Demnach war der zweite tödlich gewesen. Frost hatte mit dem dritten Schuss, der dem Flugzeug galt, sein Ziel verfehlt – durchaus verständlich, da Großwildjäger normalerweise eher wenig Erfahrung hatten, was Schüsse auf ein Flugzeug betrifft. Aber er hatte auch diesen Fehler korrigiert und hätte Josephine mit dem vierten und fünften Schuss beinahe getötet.
Zwei Tage später meldete das Kriminallabor in Chicago, dass – wie man unter dem Mikroskop sehen konnte – die Kugel, die Bell probeweise abgefeuert hatte, zwar ähnliche aus dem Pistolenlauf stammende Kratzspuren aufwies wie die Kugel in jenem Baum, dass jedoch die Kugel aus dem Baum zu stark verformt sei, um ein hundertprozentig sicheres Urteil zu fällen. Der Waffenschmied der Van-Dorn-Agentur pflichtete Bells Vermutung bei, dass die Kugel im Baum vorher noch den Körper eines Menschen hätte durchschlagen oder ihn sogar töten können. Oder ihn auch nur gestreift hatte, äußerte er eine weitere Möglichkeit. Was – außer dem Fluss mit seiner starken Strömung – durchaus ein anderer Grund für das Fehlen der Leiche sein konnte.
5
»Gut, dass die Pferde nicht laufen«, murmelte Harry Frost laut. »Sie würden bei dem Qualm ersticken.«
Frost hatte im Belmont Park Terminal nie zuvor so viele Züge gesehen.
Früher, als er noch zu den sportbegeisterten Männern gezählt hatte, die in ihren privaten Automobilen zu der gerade neu erbauten Rennbahn gekommen waren, hatte dort an Renntagen eine Menge Betrieb geherrscht, zumal an die dreißig Elektrozüge ständig neue Zuschauer aus der Stadt herbeigeschafft hatten. Aber dies hier war gar nicht damit zu vergleichen. In seinen Augen sah es so aus, als hätte sich jeder Vogelmann der Nation eingefunden, mitsamt Hilfszügen aus Werkstattwagen und Pullman-Waggons und Speisewagen und Schlafwagen für ihre Mechaniker – jeder Waggon war wie eine rollende Reklametafel mit dem Namen des jeweiligen Helden der Lüfte bemalt. Dicke Dampfwolken ausstoßend, rollten Lokomotiven durch das Gewimmel des Güterbahnhofs, Rangierloks schoben und zogen Express- und Güterwaggons auf eigens für diesen Zweck reservierte Abstellgleise. Als er aus dem Elektrozug, mit dem er aus Long Island City gekommen war, ausstieg, befand er sich auf dem letzten freien Bahnsteig.
Josephines Zug entdeckte er sofort.
Alle sechs Waggons, sogar der Werkstattwagen, waren gelb lackiert – es war die Farbe, die dieser San-Francisco-Fatzke, Whiteway, auf alles pinselte, was ihm gehörte. Alle sechs Wagen verkündeten auf ihren Seitenflächen »Josephine« in roter Schlagzeilenschrift, konturiert und mit Schatteneffekt versehen – so wie auf dem Titelblatt der Noten für diesen verdammten Gassenhauer.
Das Lied, das Preston Whiteway hatte komponieren lassen, hatte das Land wie eine Invasionsarmee überrollt. Egal wohin Harry Frost seine Flucht bisher geführt hatte, es war unmöglich gewesen, dieser Melodie zu entkommen, die von Saloonpianisten heruntergehämmert wurde, aus Grammophonen rasselte, von Männern und Frauen auf der Straße gesummt wurde und seinen Schädel wie mit einer Dampforgel zum Dröhnen brachte.
Up, up … higher … The Moon is on fire … Jo sephine … Good-bye!
Good-bye, so würde es am Ende heißen. Das Gesicht vor Wut gerötet, verließ Harry Frost den Bahnhof. Josephine hatte nicht nur ihre Ehe verraten, und Celere hatte nicht nur das Vertrauen missbraucht, das ihn, Frost, verleitet hatte, Tausende in die Erfindungen des Italieners zu investieren, nein, außerdem verdankte er ihnen auch, auf der Flucht zu sein.
Heimlich hatte er mit verschiedenen Anwälten gesprochen. Jeder hatte ihn gewarnt, dass, wenn die Angelegenheit tatsächlich vor Gericht verhandelt werden sollte, eine zweite Anklage wegen Mordes mit einer Katastrophe enden werde. Ein zweites Mal würde ihm sein Reichtum nicht mehr helfen. Seine politischen Kontakte, die besten, die man für Geld bekommen konnte, würden schlagartig gekappt werden, wenn die Zeitungen erst einmal begannen, sein Auftreten vor Gericht den Massen zu schildern. Als er einen Richter des New Yorker Berufungsgerichts in der Wohnung
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