Todesrennen
seiner Freundin in der Park Avenue überraschte, hatte der Mann Frost völlig unverblümt erklärt, dass er dem Henker nur dann entginge, wenn er den Rest seines Lebens in einer Irrenanstalt verbrächte.
Aber ihn einzufangen war nicht so einfach, wie sie feststellen sollten. Seit er aus dem Sanatorium in Matawan entlassen worden war, hatte er wie ein Einsiedler gelebt. Auch schon vorher war sein Gesicht in der Öffentlichkeit nicht sonderlich bekannt gewesen. Sein Ruf als »König der Zeitungsstände« beschränkte sich mehr auf die Zeitungsbranche. Durchschnittsbürger wie jene, die gerade vom Bahnhof zu den Belmont-Rennbahntribünen eilten, hatten noch nie zuvor ein Bild von ihm gesehen.
Außerdem, dachte er grinsend und strich sich über den Vollbart, den er hatte wachsen lassen, sah sogar er selbst einen Fremden, wenn er in den Spiegel blickte. Der Bart machte ihn zwanzig Jahre älter, da er im Gegensatz zu seinem dichten schwarzen Haupthaar, das von kaum einer silbernen Strähne durchzogen wurde, überraschend grau war. Eine Brille mit Gläsern, die nach europäischer Art leicht getönt waren, verlieh ihm das Aussehen eines deutschen Universitätsprofessors. Obgleich er sich, wenn er seine Jagdmütze trug, genauso überzeugend als irischer Schriftsteller hätte ausgeben können.
Er befürchtete lediglich, dass ihn sein Leibesumfang verriete. Der Professor mittleren Alters mit Bart und getönten Brillengläsern nahm mindestens ebenso viel Raum ein wie der Zeitungsstandkönig. Umso mehr, als sein dunkler Straßenanzug ein veritables Zelt aus weit geschnittenem Wollstoff war, den er ganz bewusst gewählt hatte, um seine Waffen und seine »kugelsichere« Weste darunter zu verbergen. Er hatte keineswegs die Absicht, sich davon abhalten zu lassen, Josephine zu töten. Und erst recht würde er sich nicht einsperren lassen, weil er eine Frau ermordete, die es in jeder Hinsicht verdient hatte. Zu seinem Waffenarsenal gehörten eine hochpräzise Browning-Pistole als Verteidigungswaffe auf seiner Flucht, eine kleine Taschenpistole und ein Derringer für Notfälle sowie ein schwerer automatischer Webley-Fosbery. Er hatte seinen Lauf mit einer Säge um zehn Zentimeter verkürzt, damit er ihn in die Tasche stecken konnte, und ihn mit sich aufpilzenden Hohlspitzpatronen geladen, sogenannten »Mannstoppern«.
Ein Priester in Chicago hatte die kugelsichere Weste aus zahlreichen Lagen Seidenstoff hergestellt, der in Österreich eigens für diesen Zweck gewebt worden war. Frost hatte insgeheim in diese Erfindung investiert und besaß Anteile an dem Unternehmen, das gegründet worden war, um das drei Zentimeter dicke Kleidungsstück herzustellen und zu vermarkten. Die Armee hatte es als zu schwer und zu heiß abgelehnt. Frosts Weste wog sechsunddreißig Pfund, eine unbedeutende Last für jemanden von seiner Größe und mit seiner Kraft. Aber heiß war die Weste tatsächlich, das war nicht zu bestreiten. Auf dem kurzen Weg vom Zug über den Bahnsteig musste er sich mehrmals mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischen. Doch es war die Unbequemlichkeit allemal wert, da sie moderne rauchlose Hochgeschwindigkeitsgeschosse, abgefeuert aus Revolvern und Pistolen, zuverlässig aufhielt.
Er war enttäuscht gewesen, als er Marco Celere mit einem Weitschuss getroffen hatte. Er hatte bedauert, die Angst im Gesicht des Verräters nicht wahrnehmen zu können, als er starb. Er hatte noch nicht einmal seine Leiche gesehen. Diesmal würde er es aus nächster Nähe tun und mit bloßen Händen das Leben aus Josephine herauspressen.
Er mischte sich unter die Besucher, die lange Warteschlangen bildeten, um Eintrittskarten zu lösen, dann ließ er sich mit ihnen zu den Tribünen treiben. Er wusste, dass sie hier irgendwo sein musste, denn die ständig summenden und knatternden Motoren über seinem Kopf sagten ihm, dass sie heute trainierten. Schwacher Wind herrschte, daher kreisten etwa ein Dutzend Maschinen am Himmel. Josephine flog entweder ebenfalls gerade, oder sie hielt sich auf dem Innenfeld auf und nahm die Feinabstimmung der Maschine vor, die Preston Whiteway für sie gekauft hatte.
Eines musste er den Organisatoren des Rennens lassen: Sie kannten ihr Geschäft. Bereits Wochen vor dem Starttermin hatten sie fünfzigtausend Menschen nach Nassau County hinauslocken können, wo jeder fünfundzwanzig Cent bezahlte, um den Vogelmenschen beim Üben zuzuschauen. Die Aviatoren umkreisten keine hohen Masten wie bei einem
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