Todesriff
Annabels . Sie fühlte sich kalt an. Annabel musste sich überwinden, in Helens in tiefen Höhlen liegende Augen zu blicken. Sie hatte sie so ganz anders in Erinnerung. Kräftig, immer gut gelaunt mit einer durchdringenden Stimme, stets sauberen und gebügelten Kleidern und ihrer unübertroffenen Kochkunst.
Die
K
ranke atmete tief durch. „Ich freu mich, dass ich dich noch einmal sehe, meine kleine Annabel! Du isst nicht genug. Du siehst dünn aus!“
Annabel schluckte. „Keiner kocht so gut wie du.“
Helen lachte, wurde aber gleich von einem Husten geschüttelt. Als sie sich wieder beruhigt hatte, sagte sie:
„ Für jeden ist mal Schluss. Ich will nicht viel drum herumreden.” Sie tastete zum Nachttisch hinüber und reichte Annabel ein zusammengefaltetes Papier.
„
Am Tag bevor
sich deine Mutter das Leben nahm, hat sie mir diesen Brief gegeben. Sie hat mich gefragt, was ich davon halte.”
Annabel faltete das Papier auseinander.
Lieber, geliebter William,
nun ist es gerade zwei Tage her, dass wir uns in den Armen gelegen haben, und ich verspüre schon wieder eine solche Ungeduld und Unruhe, dass ich nicht fähig bin, mich meine Vorlesung vozubereiten .
Du solltest Emily endlich die Wahrheit sagen und sie nicht weiter belügen. Das hat sie nicht verdient. Und für uns wäre es auch besser .
Deine Paula.
Irritiert ließ Annabel den Brief sinken. William hie ß doch ihr Vater.
„ An jenem Tag”, erklärte Helen, „kam de
ine Mutter
zu mir in die Küche. Ich war gerade mit dem Abwasch beschäftigt. Sie sagte: ‚Helen, hier, lies diesen Brief. Ich hab ihn wieder ausgegraben.’
‚Das soll man nicht machen, alte Liebesbriefe ausgraben’, hab ich zu ihr gesagt aber sie hat mir nicht zugehört. Sie hat gesagt: ‚ Gestern habe ich die beiden wieder zusammen gesehen. Nach so vielen Jahren! Und ich hatte
geglaubt
, er hat sich für mich entschieden.! William hat mich all die Jahre unserer Ehe betrogen ! ‘” Helen musste wieder husten. Sie hustete lange, spuckte in ein Papiertaschentuch, das sie zusammenknüllte und in eine Plastiktüte auf dem Nachttisch warf.
„Sie hatte Depressionen von da an. ” Helens Augen in den tiefen Höhlen
wurden lebendiger
. „ Ich bin immer ehrlich gewesen. Und so habe ich zu deiner Mutter gesagt: ‚Wenn Sie mich wirklich nach meiner Meinung fragen ... Ich glaube, dass William
nur
Ihr Geld wollte, Emily. Schließlich war er doch ein Habenichts – wie seine gesamte Familie. Das Medienimperium, seinen gesamten Besitz konnte er doch nur aufbauen, weil Sie ihm das Startkapital geliefert und die entsprechenden gesellschaftlichen Verbindungen geschaffen haben!‘”
„ Warum hast du mir das
alles
nicht schon früher erzählt?”, fragte Annabel. Sie hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen.
„
Ich w
ollte mich nicht in eure Fam ilienangelegenheiten einmischen! ”
Annabel wurde es übel. Sie wusste nicht, ob es an der schlechten Luft lag, am Anblick der Sterbenden oder an dem , was sie gerade gehört hatte. „ Weiß J onathan, dass seine Mutter immer noch mit meinem – und seinem Vater zusammen war?“
Helen
wurde von einem Hustenanfall geschüttelt
.
Stuart
rannte
ins Zimmer
und hielt ihren Kopf. „ Ja”, röchelte sie.
Als
Annabel
wieder in ihr Ap artment kam, stand sie eine Weile am Fenster und starrte auf die Straße. Ihre Tränen kamen langsam und still.
Helen Gable starb
zwei
Wochen
später
.
Sie haben sehr oft erlebt, dass Menschen Sie enttäuschen, Sie hintergehen und dass Sie selbst den falschen Menschen vertraut haben. Diese Erlebnisse haben schon sehr früh angefangen, aber jetzt sind Sie kein Kind mehr, Annabel, sondern sie können frei entscheiden, wem sie vertrauen wollen und wem sie Ihre Zuneigung schenken wollen. Glauben Sie mehr an sich! Trauen Sie Ihrer Inuition!, hatte Dr. Max Oppel, ihr Therapeut, ihr nach dieser Geschichte gesagt und hinzugefügt: Nicht alle betrügen Sie. Lieben Sie wieder!
Aber d ie Männer, die sie danach zu lieben geglaubt hatte, waren entweder hinter ihrem Geld, ihrer Schönheit oder hinter beidem her gewesen. Der letzte ließ sich ein halbes Jahr lang von ihr aushalten. Dann verschwand er mit dem silberfarbenen BMW Z3, den sie ihm gekauft hatte. Das lag nun ein Jahr zurück. Seitdem hatte sie sich nicht wieder auf einen Mann eingelassen. Nie wieder wollte sie enttäuscht werden. Seit einem Jahr hatte sie sich zurückgezoge n, tauchte, so viel sie konnte, und s ie zog das Alleinsein den
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