Todesritual: Thriller (German Edition)
sich einer der Krebse langsam auf ihn zu. Er war ein klein wenig größer als die anderen und hatte dunklere Scheren, mehr purpurfarben als rot.
Während Max den Ersatzreifen anbrachte, beobachtete er, wie der Krebs langsam, aber zielstrebig näher kam. Er zog die erste Radmutter fest und setzte die zweite auf. Der Krebs hatte schon fast seinen Fuß erreicht, er hatte die Scheren gespreizt und abgesenkt. Max unterbrach seine Arbeit und stand auf.
Der Krebs blieb stehen und sah ihn an, seine Augen lagen unter seiner Schale verborgen.
Max erkannte die Absurdität der Situation. Er hatte Mördern gegenübergestanden, die doppelläufige Schrotflinten auf ihn richteten, er war mit Säure, Benzinbomben und laufenden Kettensägen bedroht worden, einmal hatte einer versucht, ihm Syphilis-Eiter aus einer Spritze in die Augen zu sprühen – und das war alles vor seinem Knastaufenthalt gewesen. Und hier in Kuba lieferte er sich ein Blickduell mit einem beschissenen Krebs .
Dann bemerkte er den Mercedes. Er hatte am Rande der Krebsflut angehalten und stand mit laufendem Motor da. Max hatte keine Ahnung, wie lange er schon da war.
Er schaute auf den Krebs hinab, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Dann ließ er den Blick über die Hunderte von Krebsen schweifen, die in der brütenden Hitze ausharrten und mit ihren Schalen aussahen wie eine mittelalterliche Armee, die sich mit Schilden vor einem Pfeilhagel schützt.
Er ging in die Hocke und machte sich wieder an dem Rad zu schaffen, setzte die Muttern auf und zog sie fest. Er war bei der letzten angelangt, als der Anführer der Krebse wieder vorrückte. Die anderen folgten ihm, eine langsame, vorwärtsgerichtete Welle lief durch die Masse aus dunkelbraunen, matten Schalen und schob die in der ersten Reihe auf ihn zu.
Der Anführerkrebs schnappte mit den Scheren nach seinen Fußknöcheln. Max holte mit dem Schraubenschlüssel nach ihm aus und schickte ihn im hohen Bogen ins Schilf.
In diesem Moment rollte der Mercedes los. Max hörte, wie die Krebse unter den Reifen und dem Gewicht des Autos zermalmt wurden. Er hörte, wie ihre Schalen knirschten und zerbarsten. Er glaubte, leise, sehr hohe Schreie zu hören.
Sehr, sehr langsam fuhr der Wagen an Max vorbei und zermatschte dabei den Krebsteppich zu einem stinkenden, senffarbenen Brei. Die Fenster waren fast ebenso schwarz wie die Karosserie, aber Max spürte, dass ihn jemand ansah, und hinten konnte er die Umrisse eines Kopfes ausmachen.
Als der Mercedes vorüber war, schaute Max zu seinen Füßen hinab und erwartete, von Krebsen belagert zu werden, aber die waren fast alle verschwunden, nur ein paar Nachzügler huschten noch vom Straßenrand.
41
Den Rest des Tages fuhren sie ohne Pause durch und hatten bei Sonnenuntergang fast 250 Kilometer zurückgelegt.
In der Abenddämmerung hielten sie in Camagüey an, um Lebensmittel zu besorgen. Max kaufte Sandwiches und Wasser und erstand in einem Souvenirladen eine billige Sonnenbrille und eine grüne Armeemütze mit sternförmigem Aufnäher vorne drauf, auf dem, wie überall, das Antlitz Che Guevaras prangte. Die Mütze war eine Nummer zu groß und ließ ihn aussehen wie einen Touristen, der unbedingt Einheimischer sein wollte, aber sie tat ihren Dienst.
Als sie aus der Stadt herausfuhren, ertönte im Radio das Intro zu »Strawberry Fields Forever«. Benny übersetzte.
Keine guten Nachrichten. Die Polizei hatte die Suche über die Grenzen Havannas ausgedehnt und errichtete Straßensperren. Spürhunde und Hubschrauber wurden eingesetzt. Sie wussten inzwischen, wo Benny wohnte, und hatten ihn mit dem gestohlenen Chevy in Verbindung gebracht. Der Besitzer des Wagens war befragt worden, er war am Boden zerstört, weil der Wagen seit fünfzig Jahren in Familienbesitz gewesen war. Daraufhin erging sich der Nachrichtensprecher in einer weitschweifigen Tirade über den Chevy, der mehr sei als nur ein Auto, nämlich ein Symbol für die stolze und ausdauernde Kreativität Kubas im Umgang mit dem unmenschlichen imperialistischen Embargo. Der Nachrichtensprecher schwor, der Übeltäter werde für den feigen Diebstahl dieses nationalen Wahrzeichens, das mit Liebe und Sozialismus von einer Generation zur nächsten weitervererbt worden war, und für den Dolchstoß, den er der Revolution damit versetzt hatte, zur Rechenschaft gezogen werden.
Max’ Name wurde nicht genannt, nur der von Benny. Dabei sah Benny kein bisschen besorgt aus. Die Propagandaeinlagen brachten ihn zum
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