Todesritual: Thriller (German Edition)
Sessel.
Max schloss schnell wieder die Tür.
Die nächsten Zimmer waren abgeschlossen. Er war auf halber Höhe des Flurs angekommen.
Zimmer 13 ging auf, war aber leer.
Max ging weiter.
Zimmer 14: abgeschlossen. Zimmer 15: abgeschlossen.
Zimmer 16: offen.
Er schlich hinein.
Die Vorhänge standen halb offen und gaben den Blick aufs Meer frei: glatt und ruhig, eine Farbe wie silbriger Ruß, zwei Schnellboote, die in entgegengesetzten Richtungen ihre Kreise zogen, konzentrische Reihen blinkender Bojen, die sanft im Wasser auf und ab hüpften.
Max schaltete die Taschenlampe ein. Der Lichtstrahl traf auf den Nachttisch: eine Vase in Schwanenform mit hellgelben und rosafarbenen Orchideen, eine von frischem Obst überquellende Schale, ein Glas Wasser, ein weißes Telefon, mehrere Dosen und Röhrchen mit Tabletten, eine Box mit Kosmetiktüchern und, über den Tischrand hinausragend, ein Buch: »Hoffnung wagen« von Barack Obama.
Max ließ den Lichtstrahl zum Bett wandern. Wieder das falsche Zimmer. Der Patient – ebenfalls ein alter Mann – schlief fast aufrecht sitzend auf einem Berg Kissen. Sein Kopf war so geschrumpft, dass er in dem gelben Morgenmantel zu versinken schien, dessen Kragen um den Hals klaffte wie ein zahnloses, aber hungriges Maul. Die Haut klebte an seinen Schädelknochen, als wäre sie aufgesprüht worden und müsse nun trocknen, sie wirkte wachsartig und opak, von der Farbe getrübter Augenlinsen, in denen sich eine sandige Küste spiegelt. Das Haar, das ihm geblieben war, klebte ihm trotzig in dichten weißen Büscheln vorn und seitlich am Schädel. Und sein Körper verströmte einen Geruch, der sich mit dem süßen Duft der Orchideen und des Obstes mischte. Es war der Geruch medikamentös überwachter Erschöpfung, der Geruch eines langsamen Todes, dessen Stachel stumpf geworden und dessen Zeitplan durcheinandergeworfen worden war, der Geruch eines Lebens kurz vor der Ziellinie.
Max schaltete die Taschenlampe aus und wollte gerade gehen, als der Patient nach ihm rief.
»Quién es usted?«
Die Stimme klang benommen, verdorrt und androgyn.
»Wer sind Sie?«, fragte sie noch einmal, klarer dieses Mal und kräftiger.
Und es war die Stimme einer Frau – die Stimme einer Amerikanerin.
Er leuchtete noch einmal aufs Bett und sah, dass sie ihn direkt anschaute.
Vanetta Brown.
56
Sie schaltete die Nachttischlampe ein, und Max wünschte, sie hätte es nicht getan. Ihr Anblick war nicht leicht zu ertragen, nicht leicht zu verdauen, nicht leicht mit der Frau in Verbindung zu bringen, deren Gesicht er sich anhand von Fotos eingeprägt hatte. Der Krebs hatte nicht viel von ihr übrig gelassen, hatte sie zu einer Silhouette reduziert, zu einem schwachen Pauspapierabdruck von der Frau, die sie einmal gewesen war, nur noch aufrecht gehalten von einem Berg Kissen auf einem verstellbaren Bett. Sie war nur noch Knochen und Knorpel in einem schlaffen, zerknitterten Mantel aus Haut. Ihre Augen aber, die tief in den Schädel gesunken waren, hatten ihren herausfordernden, durchdringenden Blick nicht verloren, der voller hochfahrender Rechtschaffenheit und Zorn war; ungetrübt, ungeschlagen, ohne Reue.
Max nahm die Mütze ab und trat näher.
»Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Max Mingus. Ich bin … ich habe Sie gesucht«, sagte er. »Sarah Dascal hat mir gesagt, wo Sie sind.«
»Wie geht es ihr?«
»Es geht ihr gut.«
»Und den Kindern?«
»Auch gut.«
»Ich werde sie nicht wiedersehen«, sagte sie sachlich. »Wissen Sie, wie das ist? Zu wissen, dass Sie Menschen, die Sie lieben, nie wiedersehen werden?«
»Da müsste ich lügen«, sagte er.
»Es ist, als könnte man in die Zukunft blicken. Und das ist nie gut.« Ihre Stimme war ein erschöpftes Krächzen aus trockener Kehle, Schmirgelpapier auf heißen Steinen. Ihre Lippen waren schmal geworden und verkrustet von trockener, aufgeplatzter Haut.
Sie zeigte auf einen Stuhl neben dem Nachttisch und bedeutete ihm, ihn zum Bett zu bringen. Es war eine schwache Bewegung, eine ungefähre Geste, fast wie gelähmt. Das Zimmer war deutlich größer, als Max erwartet hatte. Es gab Stellen, die das Licht nicht erreichte, Ecken, die im Schutz der Dunkelheit verborgen lagen.
Sie drückte sich ein wenig hoch, kämpfte um ein paar Zentimeter. Er wollte ihr helfen, weil die Anstrengung, die sie für ein so simples Ergebnis aufbringen musste, schmerzhaft anzuschauen war, aber er tat es nicht.
»Wie sind Sie hierhergekommen?«, fragte sie.
»Das spielt
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