Todesritual: Thriller (German Edition)
Bootes war eine Leine festgemacht, die von einer unsichtbaren Hand gezogen wurde. In der Ferne, jenseits des Meeres, flatterte seitenverkehrt eine amerikanische Flagge.
Die letzte Zeichnung stellte einen grinsenden Schädel mit neckisch schief sitzendem Zylinder dar. Der Schädel hatte nur ein Auge, das knallgrün ausgemalt war.
Naive Schwindelei.
Er wusste, wo er war.
Er war schon einmal hier gewesen.
Nicht an diesem Ort natürlich, aber in der gleichen Situation: an einen Stuhl im Zentrum eines Voodoo-Vévés gefesselt, das zu Ehren einer bestimmten Gottheit gezeichnet worden war oder, um einen Geist herbeizurufen.
Er las das Vévé in der vorgesehenen Reihenfolge: gegen den Uhrzeigersinn, angefangen bei dem Schädel.
Der symbolisierte Baron Samedi, der auf Friedhöfen wohnte und Seelen stahl, der Voodoo-Gott des Todes. Baron Samedi wurde gern als Skelett mit Anklängen an Fred Astaire dargestellt, das mit Frack und Zylinder singend über Friedhöfe steppte. Hier aber hatte er ein weiteres, ein ungewöhnliches Merkmal bekommen: das knallgrüne Auge. Max betrachtete es eine Weile, unabhängig von dem Schädel, aus seinem Zusammenhang herausgelöst. Es gab Licht ab, es leuchtete. Und es war ihm sehr vertraut.
Natürlich …
Es war das Auge der Vorsehung, jenes allsehende Auge auf der Spitze der unvollendeten, dreizehnstufigen Pyramide auf der Rückseite einer jeden Dollarnote.
Baron Samedi hatte die Augen offen gehalten.
Baron Samedi hatte noch etwas zu Ende zu bringen.
Mit ihm.
Und es hatte mit Geld zu tun. Mit Geld hatte alles angefangen.
Plötzlich wurde ihm alles klar, sehr schnell und sehr schrecklich.
Joe und Eldon hatte man eine Kugel in die Augen gejagt.
Das Strichmännchen in dem Boot war Max. Er war von einer Person, die er nicht sehen konnte, von Amerika hierhergelockt worden. Und Amerika war verkehrt herum: Es hatte sich gegen ihn gewandt.
Wendy Peck.
Sie wusste von dem Geld, das er aus Haiti mitgebracht hatte. Sie hatte ihn dazu gezwungen, nach Kuba zu fliegen, um Vanetta Brown ausfindig zu machen.
Der Mund wurde ihm trocken.
Sein Puls raste.
Der Raum war so klein und eng wie der Kofferraum eines Pkw.
Er betrachtete die Schlange und den Adler. Auch der Adler, der Wappenvogel der USA, der im Herzen des Präsidentensiegels prangte, war Max. Er war Amerikaner, er hatte für das System gearbeitet. Die Sache ging also zurück auf etwas, das er noch als Polizist getan hatte, das er zusammen mit Eldon und Joe getan hatte.
Und zwar das:
Er hatte das Ei gelegt, aus dem die Schlange geschlüpft war. Er hatte sich seinen schlimmsten Feind selbst geschaffen, einen Feind, der immer bei ihm war, der ein Teil von ihm war – so dicht bei ihm, dass er ihn nicht einmal mehr bemerkte.
Schließlich der Sarg und die drei Kreuze. Das war einfach. Die drei Kreuze standen für drei Tote.
Eldon, Joe und ihn.
Er würde hier sterben.
Sehr bald.
Wer ist dieser Mann? Wie heißt er?
Max wusste es jetzt.
Es war Boukman.
Solomon Boukman.
Aber er konnte es nicht ganz glauben.
Und erst recht nicht verstehen.
Er schaute sich um.
»Zeig dich!«, schrie er.
Seine Stimme wurde schwach zu ihm zurückgeworfen. Was ihm verriet, dass dieser Raum riesengroß war.
»Zeig dich!«
Anscheinend war der Raum leer, aber er hatte nicht das Gefühl, allein zu sein. Er spürte eine Präsenz, spürte, dass da jemand war, der abwartete, ihn beobachtete, sich Zeit ließ, bevor er sich zeigte. Boukman liebte den großen Auftritt.
Das Vévé war eingefasst von einem großen Kreis aus Votivkerzen, die auf hohen Silberständern brannten. In den dicken purpurfarbenen, schwarzen und roten Kerzen staken Tierzähne, Glassplitter, Rasierklingen und lange Nägel. Die Kerzen standen in sicherer Entfernung vom Vévé, weil die Paste, mit der es gemalt war, diesen Benzingeruch ausströmte.
Zwischen den Kerzen standen weiße Porzellanschalen, die teils mit Wasser, teils mit einer roten Flüssigkeit gefüllt waren, wahrscheinlich Blut.
»Zeig dich!«, brüllte er noch einmal.
Er riss den Kopf herum, schaute nach rechts und links und, so weit er konnte, hinter sich, dann wieder nach vorn.
Plötzlich erschien auf dem Fernseher ein anderes Bild.
Auch diesen Blick kannte er.
Er kannte ihn gut.
Zu gut.
Zimmer 30 des Hotels Zürich. An der Wand die Spiegel in Vogelform.
Auf dem Bildschirm lief der Pornostreifen von Rudi Milk. »Fabiana« und »Will« knutschten und fummelten und streichelten sich, die Kleider fielen, als
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