Todesritual: Thriller (German Edition)
Wohnzimmer drang in die Küche, sehr viel lauter als der Apparat vor ihnen. Dann aufgeregtes Geschrei vom Rest der Familie. Glückliche, sehr glückliche Klänge. Die Klänge einer Feier ohne Musik.
Max schaute auf den Bildschirm und sah Fernsehsprecher, hinter denen die Landkarte sehr viel blauer war als zuvor.
Die Tür zum Wohnzimmer schwang auf, und Ashley kam fröhlich lächelnd in die Küche.
»Barack hat gewonnen!«, verkündete sie.
In der Küche erstarb ihre Fröhlichkeit. Sie sah verloren aus, als hätte sie, ohne es zu merken, etwas ganz Schlimmes getan.
Lena reagierte nicht, drehte sich nicht zu ihrer Tochter um, sah niemanden an. Sie weinte wieder, sehr, sehr leise, und Max hätte nicht sagen können, ob sie wegen dem weinte, was er gesagt hatte, oder wegen Joe oder wegen des Wahlergebnisses. Vielleicht wegen allem.
Ashley schlich mit gesenktem Kopf davon.
Auf dem Bildschirm Live-Bilder aus dem Grant Park. Obama machte sich bereit, seine Siegesrede zu halten. Über einhunderttausend Menschen hatten sich versammelt, dann Schnitt zu einem einzigen Gesicht: Jesse Jackson, der mit auf dem Balkon gestanden hatte, als Martin Luther King erschossen wurde, der zweimal für das Präsidentenamt kandidiert hatte, der Wegbereiter und Impulsgeber, der sich nun, eine kleine amerikanische Flagge in der Hand, die Augen aus dem Kopf heulte: Der Traum war endlich wahr geworden.
Als die Familien Obama und Biden Hand in Hand die Bühne überquerten, stand Jet auf und drehte den Fernseher lauter.
Der frisch gewählte Präsident hielt seine Rede hinter einer regennassen kugelsicheren Scheibe, und als die neuen First Families , wieder Hand in Hand, von der Bühne gingen, dröhnte Bruce Springsteens »The Rising« aus den Lautsprechern. Barack und Bruce, dachte Max – spätestens jetzt würde Joe flennen wie Jesse. Auf dem Bildschirm erschien ein zweites Fenster mit Jubelszenen aus aller Welt. So etwas hatte Max noch nicht gesehen. Er fragte sich, ob auch in Kuba und Haiti gefeiert wurde. Er fragte sich, ob sie auch in den Gefängnissen feierten. Er fragte sich, was Vanetta Brown wohl denken mochte.
»Ich gehe dann wohl besser«, sagte Max. Lena sah ihn nicht an.
Er stand auf und ging aus der Küche.
»Max …«, rief sie ihm nach. Er blieb in der Tür stehen, drehte sich um und sah ihr in die verquollenen, aber harten Augen. »Nicht in unserem Namen, ist das klar? Nicht in unserem Namen!«
Er parkte vor dem Studio auf der 7th Avenue. Er hatte nicht geplant, hier anzuhalten, hatte eigentlich nirgendwo anhalten wollen, aber er konnte nicht weiter. Die Straße vor ihm war von Menschen verstopft, von wohl Tausenden von Menschen, die von ihm wegmarschierten und »Yes We Did , Yes We Did « und »O! – BAM! – AH! O! – BAM! – AH! « skandierten. So hatte er Liberty City noch nie erlebt – so ausgelassen und sprühend vor Leben, so voller Menschen mitten in der Nacht.
Er ging auf sie zu und war schon bald mittendrin. Mehrere Leute ergriffen seine Hand, um sie zu schütteln. Eine Frau drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Zumindest glaubte er, dass es eine Frau war. Spielte keine Rolle. Er sah Jung und Alt, Männer und Frauen, Schwarze, Braune und Weiße. Schnapsflaschen machten die Runde, Joints und Zigaretten. Er hatte das Gefühl, leicht von rechts nach links zu schwanken und wie ein Korken auf einem langsamen Strom durch die Straßen getragen zu werden. Er hatte keine Ahnung, wohin die Menschen unterwegs waren, und wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht. Er ließ sich treiben und lächelte hinein in die Dunkelheit.
2. Teil
Der Außenposten
der Tyrannei
25
Havanna.
La Habana.
An seinem ersten Nachmittag stürmte es. Max stand auf dem Gelände des Hotel Nacional und schaute aufs Meer hinaus, eine wogende, schlingernde Masse aus schmutzig grauen Wellen und zartem weißen Schaum. Gewaltige Wogen krachten gegen die Felsbrocken und schlugen hoch über den Malecón, überfluteten den Gehweg und spülten über die breite Straße, krochen tief hinein in den Asphalt, in Risse und Spalten, bis hinab ins Fundament, und fraßen die Stadt von innen.
Mehrere Menschen waren zu Fuß unterwegs – Einheimische, keine Touristen. Sie kannten das Meer, sie wussten, wie es sich verhielt, wenn es wütend war. Sie konnten die Wellen voneinander unterscheiden, sie wussten, welche es über die Mauer schaffen würden und welche nicht. Wenn ein Mauerspringer heranrollte, verlangsamten sie ihren Schritt, ließen das Wasser
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