Todesritual: Thriller (German Edition)
über Essen. Hauptsächlich über Rindfleisch. Dann über Süßigkeiten. Das war Amerika für sie geworden: ein großer, aber nicht erreichbarer Supermarkt. Sie erzählten sich persönliche Neuigkeiten, was in der Familie los war. Ein paar Angehörige hatten ihre Ausbildung abgeschlossen, ein paar hatten eine feste Arbeit, ein paar saßen im Knast. Alles in veraltetem Blaxploitation-Slang – sie benutzten Worte, die Max seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte, die inzwischen eine andere Bedeutung angenommen hatten, die neu definiert, neu aufgelegt, neu erfunden worden waren. Und in allem, was sie sagten, schwang Traurigkeit mit. Max hörte sehr viel Bedauern und wenig Widerstandsgeist. Dies waren gebrochene Menschen. Die Zeit hatte sie überholt, und sie wussten es. Sie hatten keinen Grund mehr zu kämpfen, nur noch Kleinigkeiten, um die sie kabbelten. Ihre Revolution war im Fernsehen übertragen, als DVD verkauft und als zweiminütiger YouTube-Clip ins Internet hochgeladen und dann auf der Stelle wieder vergessen worden, verdrängt von stundenlangen Beiträgen über spindeldürre Promis mit ihren spindeldürren Chihuahuas. Und sie hatten Heimweh. Sie sehnten sich nach dem Land, aus dem sie geflohen waren, dessen Regierung und dessen Institutionen sie zu stürzen geschworen hatten. Max empfand Mitgefühl mit ihnen. Ja, sie waren Mörder, ja, sie hatten Kindern ihre Väter und Mütter, Eltern ihre Kinder genommen, aber ungestraft davongekommen waren sie nicht. Sie waren nicht frei. Sie waren nur von einem lebenslänglichen Gefängnis ins andere geflohen. Die Lebensumstände in Kuba mochten sehr viel besser sein als in den meisten Bundesgefängnissen, aber das Prinzip war das gleiche. Sie würden nie wieder nach Hause kommen.
»Sie glauben nicht, dass Sie ausgeliefert werden?«, fragte Max Gwenver, als sie wieder draußen auf der Straße standen.
»Das ist das Letzte, was mir schlaflose Nächte bereitet«, antwortete er.
»Und was bereitet Ihnen schlaflose Nächte?«
»Moskitos und Kakerlaken – die wichtigen Dinge im Leben.« Er grinste.
»Sie haben noch gar nicht Ihre Unschuld beteuert.«
»Da gibt’s nichts zu beteuern. Wenn neben dir einer einen Bullen erschießt, ist der schuldig, und nicht du.«
Max hätte ihm die Details des Falls unter die Nase halten können, aber er ließ es bleiben. Dazu war er nicht hier, nicht wegen Gwenver, außerdem wollte er den Mann nicht verärgern oder gegen sich aufbringen.
Das Treffen der PIE hatte zwei Stunden gedauert. Die Unterhaltung war von selbst versiegt, woraufhin Gwenver die Versammlung für beendet erklärt hatte. Zum guten Schluss hatte er ein kleines schwarzes Notizbuch aus der Hosentasche gezogen und einige Anwesende um ihre neue Telefonnummer gebeten. Dann hatte er gefragt, ob jemand etwas brauche, Lebensmittel oder Hygieneartikel. Praktisch alle hatten nach Toilettenpapier geschrien, und fast ebenso vielen gingen Seife und Zahnpasta aus. Die Bestellungen notierte Gwenver in einem roten Notizbuch. Dann verlas er die Preise. Alle beschwerten sich, ein paar wollten ihn runterhandeln, aber am Ende gaben ihm alle das Geld. Es folgte die allgemeine Verabschiedung, und man versprach, sich im nächsten Monat wiederzusehen, gleiche Zeit, gleicher Ort. Keiner verabschiedete sich von Max.
»Sie sind das erste Mal in Havanna, stimmt’s?«, fragte Gwenver.
»Sieht man mir das an?«
»Klar. Sie haben diesen Neuling-Blick. Dieses Staunen. Wundert mich nicht. Mir hat’s den Atem verschlagen, als ich die Stadt zum ersten Mal sah. Gehen wir ein paar Schritte.«
Havanna war eine wunderschöne Ruine, ein bröckelndes Museum, das man als Tourist für eine Stunde besuchte, um dann ein Leben lang zu bleiben, ein stattlicher Slum aus ehemals herrschaftlichen Gebäuden, die zu Bruchbuden verfallen waren. Auf den ersten Blick wirkten sie abbruchreif und verlassen, tatsächlich aber lebten dort Menschen, deren blasse Gestalten ab und zu hinter den dunklen Nischen der Fenster und Türen und Balkone vorüberhuschten, gleichgültig gegenüber dem lärmenden Gewimmel unter ihnen, den Touristengruppen auf Stadtführung, den Straßenhändlern, den flanierenden Pärchen, den Fahrradtaxis, den Dutzenden von Schulkindern in braunen Uniformen und den Polizisten – alle dreißig Sekunden einer – mit grauem Barett, hellblauem Hemd zu dunkelblauer Hose, Ohrhörer, Funkgerät auf der Schulter und Pistole, ständig auf der Hut.
Max und Gwenver spazierten durch Seitenstraßen, in denen
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