Todesritual: Thriller (German Edition)
Lebensmittelmarken. Einmal im Monat stehen sie vor den staatlichen Geschäften an und kriegen ihre Ration Reis und Bohnen und ein bisschen Fleisch – meistens Huhn oder Schwein, selten beides. Auf diese Güter haben sie einen verfassungsmäßig garantierten Anspruch. Das ist Castros Version von vierzig Morgen Land und einem Maultier.
Das soll für einen Monat reichen, aber die Leute können von Glück sagen, wenn sie bis zur dritten Woche kommen, bevor ihnen irgendein Grundnahrungsmittel ausgeht. Und dann herrscht ständig irgendwo Knappheit. Die Brunnen hier haben die Tendenz, gerade dann trocken zu werden, wenn man am Verdursten ist. Das ist schon so, seit die Russen das Land nicht mehr subventionieren und Kuba für sich allein sorgen muss. An dieser Stelle kommt der Schwarzmarkt ins Spiel. Die Leute haben keinen Spaß daran, für etwas mehr zu bezahlen, als sie sich leisten können, aber wenn sie die Wahl haben zwischen mehr ausgeben oder auf die Straße gehen und rebellieren, dann ist es doch leichter, ein paar extra Pesos aufzutreiben, und gesünder noch dazu.«
»Und Castro weiß Bescheid?«
»Natürlich. Er weiß über alles Bescheid. Öffentlich steht er nicht dazu. In der offiziellen Version sind Schwarzmarkthändler Feinde der Revolution, der Abschaum der Erde, parásitos . Über die lässt er sich in seinen fünfstündigen Ansprachen aus. Aber im Privaten hat er es akzeptiert. Er weiß sowieso, dass hier keiner unter vierzig Sozialist ist«, sagte Gwenver. »Nun gibt es zwei Arten von Schwarzmarkt – den der Mikro- und den der Makroökonomie. Die Mikro-Ebene, das sind die altbekannten Ein-Mann-Operationen, mit denen die Leute sich etwas Geld nebenbei verdienen. Und diese Zwiebel hat eine Million verschiedene Häute. Zum Beispiel … sagen wir, ich arbeite in einem staatlichen Lebensmittelgeschäft und schaffe ein paar Säcke Reis und Bohnen beiseite und sage der Regierung, dass mir zu wenig geliefert wurde und ob ich nicht vielleicht ein bisschen mehr kriegen kann? Keiner macht sich die Mühe, das zu überprüfen. Zu viel Aufwand für ein paar Pfund Reis. Also kriege ich eine Nachlieferung und verkaufe die Lebensmittel, die ich gebunkert habe, für den zwei- oder dreifachen Preis. Manchmal auch mehr, wenn gerade Knappheit herrscht. Auch der Handel mit Hygieneartikeln gehört dazu. Die meisten Touristen lassen Seife, Shampoo und Zahnbürsten da. Die Zimmermädchen sammeln alles ein und benutzen es entweder selbst oder verkaufen es. Ein sauberes kleines Geschäft. Wussten Sie, dass die Zimmermädchen in den großen Hotels mehr Geld verdienen als ein Arzt, wenn man die Trinkgelder und die ganzen Extras einbezieht? Traurig, aber wahr.
Man sagt doch immer, dass die Geschichte sich wiederholt. Hier hat die Wiederholung in den Neunzigern angefangen. Heute gibt es hier mehr Huren als zu Batistas Zeiten. Vollzeit-Huren, Teilzeit-Huren, Wochenend-Huren. Die Revolution hat alle ihre Enkelinnen zu Huren gemacht. Die jungen Frauen heutzutage setzen zuerst ihren Körper und dann das Gehirn ein. Mit ihrem Körper kriegen sie, was sie wollen, und mit etwas Köpfchen schaffen sie es, es zu behalten. Es gibt wieder Nachtclubs und Bordelle. Bald wird es auf dem Malecón wieder Peepshows, Spielkasinos und Leuchtschriften geben. Die Leute sind genauso arm wie früher und doppelt so unglücklich«, fuhr Gwenver fort. »Sehen Sie sich um und atmen Sie tief ein, weil das Kuba, das Sie heute sehen, schon sehr bald nicht mehr existieren wird. Wenn die Castros abdanken, war’s das. In fünf oder zehn Jahren ist das hier ein zweites Puerto Rico oder die zweiten Bahamas. Die Revolution ist wieder da angekommen, wo sie angefangen hat, Baby. Sie ist vorbei. Aus und vorbei.«
»Und das macht Ihnen nichts?«
»Nein.«
Gwenver fischte einen Eiswürfel aus dem Glas, steckte ihn sich in den Mund und kaute darauf herum – es klang wie schwere Schritte auf Kies. Er schaute an Max vorbei und winkte jemandem zu.
»Und die Makro-Ebene des Schwarzmarkts?«, fragte Max.
»Das, mein Freund, ist ein gänzlich anderes Thema.«
»Das ist Ihr Metier, stimmt’s?«, fragte Max und schaute hinunter auf die Colaflasche. Und in diesem Moment bemerkte er einen kleinen roten Fleck auf dem ersten weißen »O« des Markennamens. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, was es war: ein Paar Flügel, genau die gleichen wie auf den Patronenhülsen. Das Zeichen des Abakuá. Überrascht war er nicht – Wendy Peck hatte erzählt, dass sie jedes Restaurant
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