Todesritual: Thriller (German Edition)
als kommunale Veranda. Sie bevölkerten die gesamte Promenade und nahmen einen eineinhalb Meter breiten Streifen des Gehwegs ein oder saßen Rücken an Rücken auf der Mauer, das Gesicht zur Stadt oder zum Meer, aber nur an den trockenen Stellen, wo die Wellen und die Gischt sie nicht erreichten. Es war ein ungezwungenes Straßenfest, wo plötzlich jemand die Gitarre auspackte und man gemeinsam Lieder sang, wo Gedichte vorgetragen, Theaterstücke aufgeführt und Amateurgymnastik dargeboten wurde. Sie aßen geröstete Erdnüsse aus spitzen Papiertüten, die von den fliegenden Händlern feilgeboten wurden, und reichten Flaschen mit weißem oder braunem Havana-Club-Rum herum, die billigste Sorte. Max blieb auf Abstand, konnte aber nicht aufhören, sie anzuschauen. Sie mochten arm sein, aber in puncto Outfit hatten sie alles gegeben: Die Mädchen trugen enge Jeans, hauchdünne Tops und hochhackige Schuhe, die Jungs Poloshirts mit hochgeklapptem Kragen, Turnschuhe ohne Schnürsenkel und Hosen auf Halbmast. Und doch waren diese kubanischen Jugendlichen nicht wie ihre Altersgenossen in Miami, wenn die feiern gingen. Es waren die leisesten jungen Leute, die Max je gesehen hatte. Er ahnte, warum, und wurde bestätigt. In den Seitenstraßen parkten zivile PKWs, aus denen heraus sie beobachtet und gefilmt wurden: Der Staat beaufsichtigte seine Jugend wie ein strenger, überaus vereinnahmender und ungemein ungeliebter Vater – und nahm ihnen damit auch gleich ein Stück ihrer Lebendigkeit.
Max bog links in die Calle L ein und ging auf das Habana Libre zu, das ursprünglich und für kurze Zeit das erste Hilton des Landes gewesen war, bis Castro es im Namen der Revolution verstaatlicht und die nobelsten Suiten zu seinem Hauptquartier erklärt hatte. Es war ein in seiner Reizlosigkeit und Funktionalität beeindruckendes Gebäude, ein gigantischer Klotz in Blau und Weiß, augenscheinlich von einem Architekten entworfen, der Havanna mit einer Küstenstadt New Jerseys verwechselt hatte.
Vor dem Eingang parkte eine ganze Reihe Taxis, alle in einem Gelbton lackiert, der in den Augen schmerzte. Ganz vorn in der Reihe standen vier antike Checker Cabs und ein Aerobus, die Max bis dahin nur aus alten Filmen gekannt hatte. Es folgte ein Quintett sowjetischer Streichholzschachteln und zum guten Schluss, wie eine nicht enden wollende Reihe von Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen, mehrere Coco-Taxis: kugelrunde Fahrkabinen auf drei Rädern, die von einem Mopedmotor angetrieben wurden.
Max ging zum ersten Checker-Fahrer in der Reihe und nannte sein Fahrziel. Der Fahrer bat ihn, die Adresse zu wiederholen, zuckte dann mit den Achseln und sagte, er wisse nicht, wo das sei. Der nächste Fahrer, der dem Gespräch gelauscht hatte, tat und sagte das Gleiche, nur war er ein schlechter Schauspieler. Er konnte Max weder in die Augen sehen noch die Nervosität, die sich in seinem Gesicht zeigte, kaschieren. Max überging den Aerobus und steuerte auf einen Mann zu, der, den Kopf hinter einer Zeitung versteckt, an seinem Lada lehnte.
»Ich Sie nicht fahren«, sagte er leise hinter der Zeitung, die er offensichtlich nicht zu senken vorhatte. »Keiner hier Sie fahren. Nicht mal die Coco.«
»Warum nicht?«
»Wir fahren da nicht hin.«
»Warum?«
»Camino muerto.«
»Was?« Max’ Kenntnisse des Spanischen waren bestenfalls rudimentär. Er hatte sein ganzes Leben in Miami verbracht und dennoch erst kürzlich die ersten Hürden dieser Sprache genommen, und das auch nur, weil es anders nicht mehr ging. » Camino muerto ? Heißt das tote Straße?«
» Sí .«
»Und was soll das bedeuten? Hat sich der Name geändert? Habe ich einen falschen Namen?«
»Sie können da nicht hin.«
Ein paar Leute traten aus dem Hotel und stiegen ins erste Checker-Taxi.
»Und Angola?«, fragte Max. »Wo ist das?«
»Angola?« Grinsend senkte der Fahrer die Zeitung. Er hatte ein rundes Gesicht und schmale Schultern. »Angola liegt in Afrika, Señor .«
»Sie wissen, was ich meine.«
»Mein Bruder war als Soldat in Angola.«
»Sie wollen mich also nicht hinfahren?«
»Nach Afrika? Da brauche ich Visum.«
»Sie sind wirklich witzig. Hören Sie, ich bezahle Sie. Ich bezahle Sie gut.«
»No señor. Lo siento.«
»Viel Geld. Mucho dinero .«
Der Fahrer schaute wieder in seine Zeitung.
»Okay, dann sagen Sie mir doch einfach, wo ich lang muss.«
»Versuchen Sie es bei La Coppelia .« Der Fahrer nickte in die Richtung, aus der Max gekommen war. »Vielleicht Sie finden
Weitere Kostenlose Bücher