Todesritual: Thriller (German Edition)
Menschen. Die Gehwege wurden von gewaltigen Jagüey-Bäumen gesäumt, die aussahen, als würden sie von den Luftwurzeln gestützt, die wie Schmutzwasser zu Boden rannen und deren dichte Kronen kühle Schatten warfen. Es gab schöne, verlassene Parks, deren Bänke die gleiche dekorative Funktion erfüllten wie die hübschen Blumenbeete und die sauber beschnittenen Bäume. Nur das Gebäude der russischen Botschaft fiel aus dem Rahmen: eine grimmige Monstrosität aus Beton von der Anmutung eines Kühlturms und dem Design eines Raumschiffs, das mit der Nase voraus zur Erde gestürzt war. Ein schrilles, erbittertes Ausrufezeichen inmitten des Geplappers der Geschichte.
In der Lobby des Centro de Negocios – einem modernen weißen Bürokomplex – fragte Max nach Cuban X-Press . Der Empfangschef teilte ihm mit, der Verlag habe vor vier Jahren den Betrieb eingestellt, und Antoine Pinel sei in den Ruhestand getreten. Max gab sich als Buchhändler aus Kanada aus, der ein großartiges Geschäft anzubieten habe, und fragte nach Pinels Privatadresse.
Der Empfangschef tätigte mehrere Telefonanrufe und bat Max, sich zu setzen. Eine halbe Stunde später überreichte er ihm die Adresse und eine Wegbeschreibung. Pinel lebte nur zehn Blocks entfernt, in einer Seitenstraße der Avenida 5ta.
Mit den rostigen Fenstergittern und den dicken, von Wind und Wetter geschwärzten Wänden erinnerte Antoine Pinels Haus an ein Gefängnis, an ein Kleinstadtkittchen im Wilden Westen, die letzte Station eines zum Tode Verurteilten. Die untere rechte Ecke war von dichtem grünem Efeu bewachsen, der seine forschenden Finger nach und nach über das ganze Haus erstreckte, bis hoch unter das Ziegeldach, wo sie im Haus verschwanden.
Der Mann, der Max die Tür öffnete, war vermutlich einmal groß gewesen, aber das Alter hatte ihn gebeugt und ließ seinen Kopf – fast unnatürlich – hängen, als wäre das Gehirn zu schwer für seinen Hals. Er trug eine schlabbrige hellblaue Strickjacke, eine formlose graue Hose und ein vergilbtes, ehemals weißes Hemd mit braunen Hasen darauf. Die langen weißen Haare fielen ihm über die Ohren. Er hatte das Gesicht eines Bernhardiners – traurige Falten, die in mehreren Lagen hinabhingen, dazu eine lange, dicke Nase und dunkle Augen, die Einblick in eine tiefe Melancholie gewährten.
»Mr. Pinel?«
Der Mann nickte.
»Entschuldigen Sie die Störung. Man hat mir Ihre Adresse im Centro de Negocios gegeben.«
Ein wenig verdutzt, aber vor allem neugierig, musterte Pinel ihn aus der zu einem Viertel geöffneten Tür.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte Max.
»Und Französisch, Spanisch, Russisch und Deutsch. Wie viele Sprachen sprechen Sie?« Pinels Stimme war rauchig, tief und kehlig, aber er lächelte, weil er sich der Antwort bereits sicher war. Seine Zähne ließen Max an ein billiges Stück Stoff mit Leopardenmuster denken: gelb-schwarz mit ein paar braunen Tupfern.
»Nur die eine«, sagte er.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche nach einer Frau namens Vanetta Brown.«
» Vanetta? Nun, hier ist sie nicht.« Pinel zuckte mit den Achseln. Er hatte nichts Feindseliges oder Misstrauisches an sich, und er öffnete die Tür einen Spalt breiter, was vermuten ließ, dass er froh war über Gesellschaft, selbst die eines Fremden. Trotz der Aura des Tragischen, die den alten Mann umgab, zählte Max ihn zu den Spaßvögeln des Lebens, zu jener Sorte Mensch, die auch noch auf einer Beerdigung die Leute zum Lachen brachten.
»Das hatte ich auch nicht erwartet.« Er zeigte Pinel das Foto von Joe und Vanetta. Pinel zog eine Brille aus der Hemdtasche und betrachtete es, seine Augen wanderten von links nach rechts und wieder zurück nach links, wo sie verharrten. Max beobachtete sein Gesicht, aber da war keine Reaktion zu erkennen.
»Kommen Sie herein, Señor …?«
»Mingus.«
»Interessanter Name.« Pinel betrachtete ihn erneut.
»Mein Vater war ein großer Jazzliebhaber.«
Pinel trat zur Seite und ließ ihn herein.
Drinnen war es überraschend kühl und sauber, die Ausstattung rustikal, mit holzverkleideten Decken und Wänden, grauen Steinfliesen, einem Kamin und dicken Eichentüren zu den drei weiteren Räumen. Alle Möbel waren Antiquitäten: ein Sofa mit zwei passenden Sesseln, Bücherschränke mit Glasfronten, die abgeschlossen waren, und in jeder Ecke eine Stehlampe aus Messing.
»Ich koche gerade Kaffee. Darf ich Ihnen einen anbieten?«
»Kubanischen Kaffee?«, fragte Max.
»Nein, französischen,
Weitere Kostenlose Bücher