Todesrosen
als Erlendur eintraf. Sie hatte zwar das lange Schweigen mit einem Anruf unterbrochen, sie wollte ihm aber offenbar auf keinen Fall von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Einmal waren sie so etwas wie befreundet gewesen. Sie hatten sich in einem Tanzlokal kennengelernt, ein paar Mal miteinander getanzt und sich zueinander hingezogen gefühlt. Er hatte damals gerade bei der Polizei angefangen, was sie spannend fand. Sie hatten sich dann einige Male verabredet, ohne tanzen zu gehen, sie hatte ihn zu ihren Eltern eingeladen, und im Handumdrehen waren sie auch schon ein Ehepaar, und sie erwartete ein Kind. Beide veränderten sich, nachdem sie zusammenlebten und der Alltag seinen Einzug hielt. Sie hatte eine Art, ihn herumzukommandieren, die er nicht ertrug, und er tat nie das, was sie ihm auftrug. Eva Lind war zwei Jahre alt und Halldóra war hochschwanger mit Sindri Snær, als er zu dem Schluss kam, dass er es nicht mit dieser Frau aushalten konnte, und wahrscheinlich auch nicht mit irgendeiner anderen. Er hatte einen Fehler gemacht, er hätte nie so weit gehen dürfen. Er redete sich ein, er sei kein Familienvater. Wenn er versuchte, mit Halldóra darüber zu sprechen, brach sie jedes Mal in einen nicht enden wollenden Tränenstrom aus. In ihrer anständigen Familie hatte sich noch nie jemand scheiden lassen, und was sollte aus ihr werden? Was würden ihre Angehörigen denken? Schwierigkeiten gäbe es doch oft, alle anderen würden damit fertig. »Gib uns doch Zeit, lass uns abwarten«, bat sie wieder und wieder.
Aber er blieb hart, und mitten in einem heftigen Streit nach der Taufe des Jungen verließ Erlendur die Wohnung und kehrte nie wieder zurück. Er zahlte monatlich, aber Halldóra fühlte sich zutiefst gekränkt und nährte einen unerbittlichen Hass auf Erlendur, weil er die Familie im Stich gelassen hatte. Sie zog die Kinder in dem Glauben auf, dass ihr Vater ein durch und durch schlechter Mensch sei, einer, der seine Frau und seine Kinder im Säuglingsalter einfach verlassen hatte. Was natürlich haargenau stimmte. Erlendur dagegen war zutiefst davon überzeugt, dass es besser war, reinen Tisch zu machen, statt zu versuchen, eine zum Scheitern verurteilte Ehe zu flicken, gleichgültig, was die Folgen sein würden.
Sie verzieh ihm nie, dass er gegangen war. Sie verweigerte ihm rundheraus das Recht auf Umgang mit Eva Lind und Sindri Snær, und in all den Jahren, die sie unter ihrem Dach lebten, bekam er seine Kinder nie zu sehen. Er hätte vor Gericht gehen und sein Recht einklagen können, aber er ließ Halldóra schalten und walten. Seine Kinder waren Fremde für ihn, bis sie von sich aus den Kontakt zu ihm suchten, zunächst aus reiner Neugier, doch später auch, um Zuflucht bei ihm zu suchen. Weder er noch Halldóra waren wieder eine Ehe eingegangen.
Er hatte sich oft den Kopf darüber zerbrochen, weshalb beide Kinder auf die schiefe Bahn geraten waren, und gab sich selber die größte Schuld daran. Wenn er nicht so starrköpfig gewesen wäre und nicht nur an sich selbst, sondern auch an andere gedacht hätte, hätte er die Ehe aufrechterhalten und sich um seine Familie kümmern können. Wenn er sich mit seinem Schicksal hätte abfinden können. Mit der Scheidung wäre Zeit gewesen, bis die Kinder groß waren. Aber Erlendur wollte sich nicht auf diese Weise opfern, er sah keinen Sinn darin, sich in einer hoffnungslosen Ehe herumzuquälen, deswegen ging er. Im Nachhinein war ihm allerdings klar geworden, dass Halldóra der Aufgabe, sich um die Kinder zu kümmern und gleichzeitig einer Arbeit nachzugehen, nicht gewachsen gewesen war. Sie hatte ein schwieriges Leben gehabt, und der Hass, den sie in sich schürte, zuerst nur auf Erlendur und dann auf das Leben, übertrug sie auf ihre Kinder. Die waren sich selbst überlassen gewesen und hatten während der schwierigen Pubertätsjahre keinerlei Halt gehabt. Vielleicht war es auch genetisch bedingt. Es gab genügend Beispiele für charakterschwache Alkoholiker in beiden Familien. Vielleicht war es … Vielleicht war es … Vielleicht war es …
Als er zu Halldóras Haus kam, stand die Haustür offen, und im ersten Stock war die Tür nur angelehnt. Er betrat die Wohnung, in der ein wüstes Chaos herrschte. Erlendur ging davon aus, dass Halldóra zu einem der Nachbarn gegangen war, solange er sich um den Sohn kümmerte. Sie hatte nicht übertrieben, Sindri hatte wirklich wie ein Berserker gewütet. Jetzt lag er bäuchlings auf dem Boden im Wohnzimmer, wo
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