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Todesrosen

Todesrosen

Titel: Todesrosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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zum Inbegriff des Kampfes der Isländer gegen die Dänen, er bot ihnen die Stirn. Niemandem, weder Wissenschaftlern noch anderen, ist es je gelungen, irgendetwas in seinem Leben zu finden, was einen Schatten auf den historischen Glanz, der ihn umgibt, werfen würde. Er war ein Nationalromantiker und holte sich seine Inspirationen aus der Zeit des isländischen Freistaats, dem goldenen Zeitalter, bevor das Land im 13. Jahrhundert von Norwegen abhängig wurde. Das ist es so ungefähr, was die Isländer mit Jón Sigurðsson verbinden. Wenn man aber ein wenig hinter die Kulissen schaut, kommt ein extrem routinierter Lobbyist zum Vorschein, der aus einem seltsamen Starrsinn heraus den Dänen immer wieder mit den gleichen juristischen Argumenten kam. Es wurde höchstens darüber geklagt, dass er ein langweiliger Mensch war.« Er hielt kurz inne. »Wartet mal, wie war noch die Formulierung? ›Ein Mann der trockenen Vernunft und unermüdlich in seiner Arbeit.‹ Es hieß, dass er schon alt auf die Welt kam, und viel Humor hat er wohl nicht gehabt.«
    »Aber sein Privatleben? Gibt es da vielleicht etwas, was mit einer jungen, ermordeten Frau zu tun haben könnte, die vermutlich Prostituierte war?«, fragte Sigurður Óli.
    »Da habe ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Einige behaupten, dass Jón Syphilis hatte, was auf eine Verbindung zu Freudenmädchen schließen lässt. Es hat sich aber als schwierig erwiesen, etwas in der Richtung nachzuweisen. Jón selber hat in einem Brief abgestritten, dass er Syphilis hatte. Das Gerücht kam auf, weil er 1849 fast ein ganzes Jahr lang bettlägerig war.«
    Ingjaldur steckte sich unter ausgiebigem Paffen eine neue Pfeife an und inhalierte tief, bevor er fortfuhr.
    »Über sein Verhältnis zu seiner Frau Ingibjörg ist nicht viel bekannt. Seltsamerweise ist kein einziger Schnipsel von der Korrespondenz zwischen den beiden erhalten. Sonst hat Jón alles, was sich um ihn herum ansammelte, aufbewahrt und es sehr ordentlich abgelegt. In seinem Nachlass gibt es jedoch keinen einzigen Brief von oder an Ingibjörg. Das könnte darauf hindeuten, dass er nicht unbedingt versessen darauf war, sie zu heiraten. Sie hat immerhin zwölf Jahre auf die Hochzeit warten müssen.«
    Ingjaldur verstummte und fummelte wieder an seiner Warze.
    »Und dann ist da noch die Frau in Schwarz«, fuhr er schließlich fort.
    »Was für eine Frau in Schwarz?«, fragte Erlendur.
    »Das war eine ganz mysteriöse Sache«, erwiderte Ingjaldur, legte seine Pfeife auf den vollen Aschenbecher und stand auf. »Sie tauchte bei der Trauerfeier für Jón in Kopenhagen auf. Eine schwarz gekleidete Frau mit einem Schleier, der ihr Gesicht verhüllte. Wo hab ich das noch gelesen? Ach, ja, unser Nordistik-Papst Sigurður Nordal erwähnt sie in der Festschrift für Jón Helgason. Moment, die muss hier irgendwo rumstehen.«
    Ingjaldur ließ seinen Blick über die Bücherregale gleiten und kratzte sich ratlos am Kopf, brummte aber plötzlich zufrieden, als er das Buch entdeckte. Er holte es aus dem Regal, setzte sich wieder hin und begann, darin zu blättern.
    »Hier haben wir es. Also, die Trauerfeier fand am 13. September 1879 in der Garnisonskirche statt, und in der Kirche erschien – ich zitiere: ›eine hochgewachsene Frau, die würdevoll eintrat, in Trauerkleidung und mit einem Schleier vor dem Gesicht, sodass ihre Züge nicht zu erkennen waren‹. So wird sie beschrieben. Sie nahm ziemlich vorn in der Kirche Platz und konnte sich des Schluchzens nicht erwehren. Niemand weiß, wer diese Frau war. Man hat viel darüber spekuliert, ob sie seine Geliebte gewesen ist.«
    In diesem Augenblick meldete sich Erlendurs Handy. Er ging dran, nickte und steckte den Apparat wieder in die Jackentasche.
    »Sie haben ein Foto von ihm, oder zumindest glauben sie das«, sagte er.
    »Von wem?«, fragten der Historiker und Sigurður Óli im Chor.
     
    Das Foto war sehr undeutlich. Es war sofort an die Kriminalpolizei weitergeleitet worden, als sich herausgestellt hatte, dass es sich um den gestohlenen Saab handelte. Es war bei einer Radarfalle an der Kreuzung Miklubraut und Kringlumýrarbraut aufgenommen worden. Die Fachleute arbeiteten noch an dem Film, um die Qualität des Bildes zu verbessern, doch das erforderte seine Zeit. Der Fahrer des Wagens trug eine schwarze Jacke, wahrscheinlich aus Leder, hatte eine hohe Stirn und dichtes Haar. Die Augenbrauen waren deutlich erkennbar, aber Augen, Nase und Mund wirkten wie Schatten in dem weißen Gesicht.

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