Todesrosen
wie es war, allein zu leben.
»Wieso weggetreten? Was für ein Quatsch!«
»Findest du nicht, dass sie eine kleine Macke haben muss? Frauen, die ihre Liebhaber auf den Friedhof locken, um sich abzukühlen. Sind die nicht etwas dubios?«
»Sich abkühlen! Das ist es wohl, was ihr da in den Ostfjorden macht«, konterte Sigurður Óli spöttisch. Erlendur war in Eskifjörður geboren, aber bereits in jungen Jahren mit seinen Eltern nach Reykjavík gezogen, wo er seitdem sein Leben verbracht hatte. Die seltenen Male, wenn die Rede auf diesen Fjord kam, diente er als Anlass, um sich über Erlendur lustig zu machen, meistens in seiner Abwesenheit. »Kühlt ihr euch ab?«, fuhr Sigurður Óli fort. »Komm her, mein Schatz, ich will mich abkühlen. Jetzt ist Samstag, brauchen wir nicht etwas Abkühlung? Und überhaupt, meines Wissens hattest du ihr versprochen, dass dieser Vorfall nie wieder erwähnt würde, dass wir praktisch gar nicht gehört haben, was sie uns da erzählt hat.«
»Hab ich dir da vielleicht was vermasselt?«
»Und eins noch. In den Nachrichtensendungen wird ziemlich ausführlich auf unsere Zeugin eingegangen. Soweit mir bekannt, sollten die Informationen unsererseits auf ein Minimum reduziert bleiben. Sie befürchtet, dass sich viel zu viel Aufmerksamkeit auf sie richtet und dass derjenige, der da am Werke war …«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Als Erlendur das Gespräch entgegennahm, lief er für einen Augenblick blutrot an. Er starrte wie paralysiert vor sich hin und bedeutete schließlich Sigurður Óli mit unmissverständlichen Gesten, ihn allein zu lassen. Sigurður Óli hatte nicht die geringste Ahnung, was los war, stand aber auf, schloss die Tür hinter sich und verschwand auf dem Korridor.
Am Telefon war Erlendurs geschiedene Frau. Es waren bald zwanzig Jahre her, seit er sie zuletzt gesehen oder gesprochen hatte. Sie hatten keinerlei Kontakt gehabt, seit er sich abgesetzt und sie mit zwei kleinen Kindern allein zurückgelassen hatte. Als er später über das Gespräch nachdachte, überraschte es ihn nicht, dass er ihre Stimme trotzdem sofort erkannt hatte, so als wäre es erst gestern gewesen, dass sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. Erlendur wusste, dass sie ihn erbittert hasste. Längst verschüttete Erinnerungen kamen wieder hoch und gingen ihm durch den Kopf.
»Entschuldige, dass ich dich belästige«, sagte sie hörbar bemüht, ihre Worte so verächtlich wie möglich klingen zu lassen, »aber dein Sohn, der dank dir ein totaler Versager ist, liegt hier bei mir auf dem Fußboden, hat alles vollgekotzt und kurz und klein geschlagen. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, war er hier eingebrochen, denn einen Schlüssel hat er von mir nicht gekriegt, und hatte sämtlichen Alkohol ausgetrunken, der in der Wohnung zu finden war. Er war nicht mal imstande, ins Klo zu pinkeln, sondern hat sich einfach in die Hose gemacht. Und dann ist er wohl ausgerastet, und meine Wohnung ist ein Schlachtfeld. Mir reichts jetzt endgültig. Ich habe mich lange genug für diese missratenen Kinder abgerackert, ich habe jetzt die Schnauze voll!«
Ihre Stimme war immer lauter geworden, zum Schluss hatte sie angefangen zu schreien.
»Hol ihn bloß hier weg, du verdammtes Schwein, bevor ich ihn umbringe! Du hast unsere Kinder kaputt gemacht und mein Leben zerstört, du Scheusal«, kreischte sie. Dann knallte sie den Hörer auf.
Erlendur verharrte noch eine ganze Weile mit dem Hörer am Ohr. Zwanzig Jahre hatten ihren Hass auf ihn nicht gemildert, sie würde ihm immer und ewig die Schuld daran geben, was aus den Kindern geworden war, das hatten auch Eva Lind und Sindri Snær ihm bestätigt. Das Tuten des Telefons hallte in Erlendurs Kopf wider, wie um alles auszulöschen, was er gehört hatte. Endlich legte er den Hörer auf die Gabel und stand ganz langsam auf, zog sich das Jackett an und setzte sich wie in Hypnose den Hut auf. Er war schon zur Tür heraus, als ihm auf einmal einfiel, dass er die Adresse gar nicht kannte. Er schlug im Telefonbuch nach und fand heraus, wo Halldóra Guðmundsdóttir wohnte. Wieder ging er hinaus, kehrte aber noch einmal zurück, um ein kurzes Telefongespräch mit dem Leiter der Entzugsklinik in Vogar zu führen, den er von Berufs wegen gut kannte. Erlendur konnte seinen Sohn jederzeit dort einliefern.
Er fuhr den kürzesten Weg von Kópavogur ins Hlíðar-Viertel. Halldóras kleine Wohnung befand sich in einem Mehrfamilienhaus, sie war aber nicht zu Hause,
Weitere Kostenlose Bücher