Todesrosen
sah auf die Lichter und die vielen Autos auf der Miklabraut. Sein Stiefvater kümmerte sich kaum um ihn. Die Kinder in der neuen Schule verhielten sich zunächst neugierig ihm gegenüber. Er genoss die positive Beachtung mit Vorsicht, fand es aber schön, zu den anderen Kindern zu gehören. Aber er war zu scheu, um sich richtig in die Gruppe einfinden zu können. Er wurde jetzt nicht mehr gemobbt, doch er blieb weiterhin ein Außenseiter und hatte keine Freunde.
Nachdem er seine Pflichtschulzeit hinter sich gebracht hatte, begann er zu arbeiten. Er wurde als Gehilfe in der Fleischverarbeitung der Genossenschaft Suðurland eingestellt und der Räucherei zugeteilt. Er eignete sich schnell die notwendigen Kenntnisse an, wie man Lamm, Schwein und Lachs räuchert. Es dauerte auch gar nicht lange, bis er mehr oder weniger allein für diesen Bereich der Fleischverarbeitung zuständig war. Den anderen Mitarbeitern des Betriebs konnte das nur recht sein, denn das Räuchern war eine schmutzige Arbeit. Die Öfen waren dreckig und verrußt, und man war ständig von einer eigenartigen Geruchsmischung aus Salpetersäure, geschmolzenem Fett und den verschiedenen Brennmaterialien umgeben. Das Fleisch wurde gepökelt und an großen Haken an ein Stahlgestänge gehängt, das an Laufschienen unter der Decke in die Räucheröfen geschoben wurde. Die Öfen waren drei Meter hoch und vier Meter lang. In die großen Schubkästen darunter kamen Holzscheite, Holzkohle, Sägespäne und manchmal auch Schafsmist. Wenn die Glut entfacht war, schob er die Laden unter das Fleisch. Die Kunst des Räucherns bestand darin, kein Feuer, sondern Rauch entstehen zu lassen.
Manchmal entwickelte sich so viel Ruß und Rauch, dass er den hinteren Raum hustend und prustend und von Kopf bis Fuß mit Ruß bedeckt verlassen musste. Am schlimmsten war das Brennen in den Augen. Manchmal rannte er fluchtartig an den Öfen vorbei hinaus auf den Hof, um nach Luft zu schnappen, die Tränen liefen ihm dabei über die Wangen, so sehr brannten ihm dann die Augen. Er nahm das alles aber gern in Kauf, denn er genoss das Alleinsein bei der Arbeit und die Tatsache, dass er ganz auf sich gestellt war. Außer dem Werkmeister, der ihn stets freundlich behandelte, kümmerte sich kaum jemand um ihn. Die harte Arbeit stählte ihn, er verdiente Geld und konnte sich bald eine kleine Kellerwohnung in Breiðholt leisten. Kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag machte er seinen Führerschein, es war schon lange sein Traum, einmal ein Auto zu besitzen. Die meiste Zeit war er für sich.
Bis er Birta in Reykjavík wiedertraf.
Das war vor rund zwei Jahren gewesen. Die ersten Jahre in Reykjavík hatte er immer Ausschau nach ihr gehalten, wenn er durch die Stadt ging, in der schwachen Hoffnung, dass sie ebenfalls nach Reykjavík gezogen war, aber er traf sie nie und hatte eigentlich die Hoffnung aufgegeben, sie jemals wiederzusehen. Sie war eine ferne Erinnerung für ihn, in die er Zuflucht suchte, wenn es ihm schlecht ging. Es traf ihn daher wie ein Peitschenhieb, als er eines Tages auf dem Weg nach Hause plötzlich ihr Gesicht sah.
Er wartete an einer Haltestelle an der Hverfisgata auf seinen Bus. Es war ein schöner Sommertag, und er stand in einer Gruppe von Leuten, als sie vor ihm auftauchte, wie es schien in Begleitung eines ungepflegten alten Mannes. Sie gingen die Hverfisgata hinauf. Er hatte nicht sofort begriffen, um wen es sich handelte. Er hatte sie zunächst von vorn wahrgenommen, als sie sich der Haltestelle näherte. Als sie an ihm vorbeiging, sah er ihr Profil, und schließlich sah er ihre Gestalt von hinten, die ganze Zeit versuchte er krampfhaft, diese Person einzuordnen. Als er endlich begriffen hatte, wer sie war, lief er spontan ein paar Schritte hinter ihr her, hielt dann aber inne. Er wollte ihr nachrufen, unterließ es aber und folgte stattdessen den beiden in einiger Entfernung.
Er wusste, dass sie es war. Sie sah natürlich anders aus, war größer und schmaler geworden, hatte einen Busen bekommen, war zur Frau geworden, aber er kannte dieses Gesicht, auch wenn es sich ebenfalls verändert hatte. Es war sehr bleich und stark geschminkt, die Augen waren schwarz umrandet, die Lippen knallrot, doch es waren dieselben Gesichtszüge. Ja, das war seine Freundin aus dem Dorf, die da urplötzlich an einer Bushaltestelle an ihm vorbeiging! Er konnte es kaum fassen. Wie viele Jahre ist es her, seit ich sie zuletzt gesehen habe?, dachte er. Großer Gott, und jetzt geht sie
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