Todesrosen
Lebensrettung in den Westfjorden berichtet wurde. Ein junges Mädchen hatte ungewöhnliche Geistesgegenwart und Mut bewiesen, als sie einen Klassenkameraden vor dem Ertrinken bewahrte. Der Vorfall wurde in dem Artikel kurz geschildert, und daneben war ein Foto von den beiden jungen Leuten im Krankenhaus abgebildet. Der Junge lag im Bett, und an seiner Seite stand ein Mädchen. Beide waren im Schlafanzug und schienen kaum mehr als zwölf oder dreizehn Jahre alt zu sein. Unter dem Bild standen ihre Namen: Birta und Janus.
Der kleine Kleiderschrank im Schlafzimmer war unterteilt in Kleidung und Schuhe, die offenbar einer Frau gehörten, und Männerkleidung. Elínborg registrierte schnell, dass nichts davon viel gekostet haben konnte. Sie schaute sich ein paar T-Shirts und Pullover an, und was sie sah, wirkte sehr bescheiden, fast ärmlich. Anschließend ging sie ins Badezimmer und sah sich dort um. Ihr Blick fiel sofort auf die Spritze im Waschbecken. Auf dem Fußboden lagen ein Löffel und ein Feuerzeug. Sie zog sich dünne Kunststoffhandschuhe an, nahm die Spritze vorsichtig in die Hand und roch daran, bevor sie sie wieder zurücklegte. In einem kleinen Schränkchen über dem Waschbecken befanden sich Kosmetikartikel, Lippenstifte und Make-up.
Birtas Zufluchtsort, dachte Elínborg und machte das Schränkchen wieder zu.
Zwanzig
Herbert war im Räucherofen verstummt. Janus saß in dem Raum dahinter auf einem Holzstapel und dachte an Birta. Immer wieder ging ihm das Lied durch den Kopf, das er damals gehört hatte, als er sie das erste Mal in Reykjavík wiedersah, und das ihn seitdem verfolgte. Er hatte dabei stets sie und den Alten im Treppenhaus vor Augen. Jetzt summte er das Lied leise vor sich hin.
Es war gut zwei Jahre her, aber Janus kam es fast wie ein ganzes Menschenleben vor. Sie war die Einzige von seinen Gleichaltrigen im Dorf gewesen, die sich mit ihm angefreundet hatte. Er war ein Außenseiter, wurde in der Schule verspottet und hatte keine Freunde. Es war schlimm, wenn die anderen sich ihre Späße mit ihm erlaubten und ihn piesackten, aber noch schlimmer war die Isolierung. Nie wurde er zu Geburtstagen eingeladen, und wenn er selber Geburtstag hatte, lud seine Mutter immer einige Verwandte ein, damit sie mit ihm feierten, was aber nicht über das Fehlen von Freunden hinwegtäuschen konnte. Er begriff nie, weshalb die anderen ihn nicht mit dabeihaben wollten. Er zerbrach sich oft den Kopf darüber, kam aber nie zu einem Ergebnis. Geschwister hatte er keine. Seine Mutter war alleinstehend und arbeitete in der Fischverarbeitung, was nichts Ungewöhnliches in dem Dorf war. Sie stammten zwar nicht von dort, sondern waren zugezogen, aber das war so lange her, dass er sich kaum daran erinnern konnte. Außer ihnen gab es noch viele andere Zugezogene, auch Ausländer, die ins Land geholt worden waren, um in den Fischfabriken zu arbeiten. Er erinnerte sich nicht, wann das angefangen hatte. Vielleicht war das immer so gewesen.
Birta war es, die sich um ihn kümmerte und beruhigend auf ihn einredete, wenn die anderen Kinder ihm die Hose heruntergerissen und sie weggeworfen hatten oder ihm den Kopf in die Kloschüssel steckten. Schon so früh erwachsen und voller Mitleid.
Sie lebte in einem Reihenhaus nicht weit von dem Haus, in dem er und seine Mutter wohnten. Sie gingen in dieselbe Klasse und waren Freunde. Sie konnten den ganzen Tag zusammen spielen, ohne dass sich jemand um sie zu kümmern brauchte. Wenn das Wetter im Winter schlecht war, spielten sie drinnen, entweder bei ihr oder bei ihm zu Hause. Alle Erinnerungen an seine Jugend in diesem Dorf kreisten um seine Freundin, die ihm half, wenn es ihm dreckig ging.
Nachdem er mit seiner Mutter nach Reykjavík gezogen war, verlor er den Kontakt zu ihr und vermisste sie mehr, als Worte beschreiben können. Seine Mutter hatte einen Seemann aus Reykjavík kennengelernt und war mit ihm in den »sonnigen Süden« gezogen, wie es im Dorf genannt wurde. Das war Mitte der achtziger Jahre gewesen, noch bevor die große Abwanderung aus den Westfjorden einsetzte.
Der Seemann fuhr jetzt nicht mehr zur See und hatte eine Arbeit in der Stadt bekommen. Sie zogen in eine kleine Wohnung in einem Block im Háaleiti-Viertel. Seine Mutter ging ebenfalls arbeiten, sodass der Junge sehr viel sich selbst überlassen war. Er war nie zuvor in Reykjavík gewesen. In der ersten Nacht konnte er nicht einschlafen, er schlich sich im Dunkeln ins Wohnzimmer, setzte sich ans Fenster und
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