Todesrosen
Mädchen nie gegeben. Niemand vermisst sie, sie ist unauffindbar im sozialen System und folglich auch bei uns, deswegen mussten wir zu dieser Notlösung greifen. Wir wissen nur eines, nämlich dass sie aus den Westfjorden stammte und irgendwann nach Reykjavík gezogen ist. Aber sogar das steht keineswegs hundertprozentig fest.«
Die Frau setzte sich zu ihnen und bestellte drei große Bier. Sigurður Óli glaubte zunächst, die seien alle drei für sie selber, aber dann stellte sich heraus, dass sie eine Runde ausgeben wollte. Sie war um die fünfzig und hatte helles, lockiges Haar, kräftige Wangen und einen großen Mund mit schönen Zähnen. In ihrem Busen würde man versinken können. Erlendur schien es ihr mehr angetan zu haben als Sigurður Óli.
»Es kann gut sein, dass sie einen Jungen gekannt hat, der ebenfalls hier aus den Westfjorden kam«, sagte Erlendur. »In irgendeiner Form stand er in Verbindung zu ihr in Reykjavík. Wir wissen fast genauso wenig über ihn, außer, dass er wahrscheinlich Janus heißt.«
»Janus?«, sagte die Frau mit den üppigen Rundungen und wischte sich den Bierschaum von der Oberlippe.
»Sagt dir das vielleicht irgendetwas?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein, und trotzdem … Ich kann mich dunkel daran erinnern, in den Zeitungen irgendwas in der Richtung gelesen zu haben. Weshalb unterhaltet ihr euch nicht mit dem Bezirksarzt?« Sie drehte den Kopf zur Seite und rief dem Besitzer des Lokals zu: »Ist dein Bruder zu Hause, Svanur?«
»Ich denke schon«, war die Antwort.
»Ruf doch mal bei ihm an, und frag ihn, ob er Zeit hat, mit diesen beiden Männern zu reden.«
Sie wandte sich wieder an Erlendur und Sigurður Óli.
»Reicht es nicht, wenn einer von euch dort hingeht?«, fragte sie, indem sie Erlendur fixierte.
»Am besten ich«, erklärte Sigurður Óli und schickte sich an aufzustehen.
»Sag ihm, dass gleich ein junger Kriminalbeamter zu ihm kommen wird, um sich mit ihm zu unterhalten«, rief sie dem Wirt zu und wandte sich anschließend wieder an Erlendur.
»Was ist deine Frau von Beruf?«, fragte sie und trank einen kräftigen Schluck Bier.
Der Arzt war zu Hause. Nachdem Sigurður Óli erfahren hatte, wo er wohnte, ließ er Erlendur mit XXL zurück. Er ging die Hauptstraße entlang, hielt sich dann links in Richtung Meer und kam bald zu einem Haus, das an einer schönen Meeresbucht stand. Der Bezirksarzt, der Trausti hieß, erwartete ihn an der Tür, ein weißhaariger Mann um die sechzig in Jeans, Hemd und Filzpantoffeln. Er begrüßte Sigurður Óli mit einem festen Händedruck. Was für ein schönes Wetter, er sei allein zu Haus, alle Kinder ausgeflogen, seine Frau mit ihrem Nähkränzchen in Dublin, um Geld auszugeben. »Kaffee? Nimm bitte Platz, es dauert gar nicht lange.«
Der Arzt macht sich lautstark in der Küche zu schaffen, kehrte dann wieder ins Wohnzimmer zurück und setzte sich. Das Mädchen auf dem Foto kannte er nicht.
»Wir suchen nach einem Jungen und einem Mädchen, die vermutlich hier aus den Westfjorden stammen. Er heißt Janus und sie Birta.«
»Ja, vielleicht hießen sie so«, sagte der Arzt nachdenklich.
»Wer?«, fragte Sigurður Óli.
»Es ist bestimmt schon acht oder zehn Jahre her. Damals war ich Arzt am Krankenhaus in Ísafjörður, aber von dort waren sie, glaube ich, nicht; sie stammten wohl eher aus einem dieser Fischerdörfer in der Gegend. Ein sympathischer Bursche war das, auch sie war nett.«
»Wieso erinnerst du dich an die beiden?«
»Über sie gibt es auch etwas im Krankenhausarchiv.«
»Im Krankenhausarchiv?«
»Ich bin mir fast sicher, dass sie so geheißen haben«, sagte der Arzt. Er ging in die Küche und kam mit zwei Tassen Kaffee und einer kleinen Schale mit Schokokeksen zurück.
Wann kommt der denn endlich zur Sache?, dachte Sigurður Óli.
»Hat das hier etwas mit dem Mädchen auf dem Grab von Jón Sigurðsson zu tun?«, fragte der Arzt, der offensichtlich keinerlei Eile hatte. »Komisch, dass sie da aufgefunden wurde. In den Nachrichten hieß es, dass sie nicht dort ermordet worden ist, sondern vermutlich aus einem ganz bestimmten Grund dahin gebracht wurde. Ich habe eine Theorie, was dahinterstecken könnte.«
»Du und mein Kollege, ihr könntet bestimmt stundenlang gemeinsam darüber spekulieren«, entgegnete Sigurður Óli mit einem leichten Seufzer.
»Sie ist auf dem Altar der Amerikaner geopfert worden, die nicht nur dieses Land drangsalieren, sondern auch die ganze Welt«, erklärte Trausti. »All
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