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Todesrosen

Todesrosen

Titel: Todesrosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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hier direkt vor mir.
    Er blieb dem Mädchen mit dem krummbeinigen alten Mann in seinem zerschlissenen Anorak an ihrer Seite auf den Fersen. Sie trug einen grünen, gelöcherten Strickpullover, einen knallroten Lederrock, der ihr kaum bis über den Po reichte, dünne Nylonstrümpfe und Schuhe mit dicken Sohlen. Um den Hals hatte sie einen rötlichen Schal. Ihr schönes schwarzes Haar war ungewaschen, und obwohl es warm war, trug sie Ohrenschützer mit einem Teddygesicht, das ihn im Vorbeigehen angelächelt hatte.
    Er sah sie ein vierstöckiges Haus an der Hverfisgata betreten und folgte ihnen kurze Zeit später. Linker Hand im Treppenhaus befand sich eine kleine schwarze Tafel, auf der die Namen der Firmen standen, die hier ihre Büros hatten. Er war bereits ein paar Stufen hochgestiegen, als er ein Geräusch von der Nische unter dem Treppenaufgang her hörte. Er stieg die Stufen wieder hinunter, und als er seitlich an der Treppe vorbeiging, hörte er nun deutlich unterdrücktes Stöhnen. Er spähte in die dunkle Ecke und sah, wie seine Freundin vor dem alten Mann kniete und ihn mit dem Mund befriedigte, so wie er es in den Pornozeitschriften seines Stiefvaters gesehen hatte.
    Ein alter Schlager von Vilhjálmur Vilhjálmsson drang von irgendwoher leise ins Treppenhaus.
    »Warte, Papa, warte hier – warte, dann komm ich zu dir …«
    Das kleine Teddygesicht bewegte sich auf und ab, auf und ab …
     
    Er wartete vor dem Haus, bis der Alte herauskam und kurz darauf sie. Er ging auf sie zu und fragte, ob sie sich nicht an ihn erinnern könne, an Janus aus den Westfjorden? Sie schien überhaupt nichts zu begreifen, und er konnte kein vernünftiges Wort aus ihr herausbekommen. Er folgte ihr in eine schäbige Bude auf der Njálsgata, wo drei Matratzen auf dem Fußboden lagen. Sie ließ sich auf eine von ihnen fallen und schlief sofort ein. Er legte sich zu ihr, und nach einiger Zeit war er ebenfalls eingeschlafen.
    Sie wachte vor ihm auf, wusste dann sofort, wer er war, hatte aber keine Ahnung, was passiert war. Erinnerte sich nicht daran, dass er sie nach Hause begleitet hatte, und kapierte nicht, weshalb ihr Jugendfreund auf einmal wie vom Himmel heruntergefallen schlafend neben ihr auf der Matratze lag. Noch seltsamer war die Tatsache, dass ihr Jugendfreund zum Mann geworden war.
    Er war kräftig gebaut, stämmig und stark, hatte dichtes, helles Haar und einen einige Tage alten Bart, eine große Nase, volle Lippen und Hände, denen man ansah, dass sie zupacken konnten. Er trug Jeans, ein dünnes weißes T-Shirt, eine grüne Kapuzenjacke und Turnschuhe.
    Sie schüttelte ihn so lange, bis er aufwachte. Er brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, wo er sich befand. Er sah sich um. Nach und nach wurde ihm klar, was vorgefallen war.
    »Kannst du dich an mich erinnern?«, fragte er seine Freundin.
    »Du bist Janus«, sagte sie.
    »Ich hab dich in der Stadt gesehen, aber du hast mich nicht erkannt, und ich bin dir gefolgt. Lebst du schon lange in Reykjavík?«
    »Schon einige Zeit. Hast du was?«
    »Hab ich was?«
    »Stoff. Dope. Hast du was?«
    »Damit kann ich nicht dienen, leider.« Das »leider« war ihm einfach so herausgerutscht. Er hatte nie in seinem Leben irgendwelche Drogen angerührt.
    »Hast du Schotter?«
    »Ein bisschen, aber nicht bei mir. Ich kann aber was holen.«
    »Dann hol’s«, sagte sie.
    Erst viel später, als sie wieder enge Freunde geworden waren, traute er sich, sie zu fragen, wie sie in das alles hineingeraten war. Das war, nachdem sie sich hatten tätowieren lassen, er ließ sich ihren Buchstaben auf den Oberarm schreiben und sie ein J auf eine Pobacke. Weshalb war sie damals zum Junkie geworden, der sich auf den Straßen von Reykjavík herumtrieb und nur an den nächsten Schuss denken konnte? Als er sie zuletzt in den Westfjorden gesehen hatte, war sie noch in der Grundschule gewesen. Einige hatten bereits angefangen, zu rauchen und Alkohol zu trinken, aber sie gehörte damals nicht zu denen. Sie hatte außerdem doch immer viele Freunde gehabt und war kein Außenseiter gewesen so wie er. Weshalb dieses Leben? Weshalb dieser entsetzliche Absturz?
    Er spürte, dass sie nicht über sich reden wollte. Sie schien selber gar nicht ganz genau zu wissen, wie es dazu gekommen war, und vielleicht hatte sie auch nur ein geringes Interesse daran, sich damit auseinanderzusetzen. Ihr bisheriges kurzes Leben war in ihrem Rückblick mehr oder weniger ein Produkt ihrer Fantasie geworden, voller Widersprüche

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