Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
Idiot gewesen. Er schaute hinab auf die dunklen Köpfe der Zwillinge und wusste, dass er sie enttäuscht hatte. Und Lára. Und Sigga Dögg, die zu Hause wartete. Ægir biss die Zähne so fest zusammen, dass sein Kiefer schmerzte. Sie mussten nach Island und zwar schnellstens.
In seinem Kopf spulten sich unablässig die Namen der Besatzungsmitglieder ab, als gehörten sie zu einem Kinderlied. Þráinn, Halli, Loftur. Halli, Loftur, Þráinn. Loftur, Þráinn, Halli. Wer von ihnen war es gewesen? Doch wohl nicht alle drei?
19. Kapitel
Der Fund der Leiche stellte das Rätsel um die Yacht in ein gänzlich neues Licht. Das Schicksal des an Land getriebenen Loftur bestätigte die Theorie, dass an Bord etwas passiert sein musste, was die Leute dazu veranlasst hatte, das Schiff zu verlassen. Anders war es jedoch mit dem Toten, der in eine Plane gewickelt an die Yacht gehängt worden war. Dóra war schon zum vierten Mal bei der Polizei, während Matthias und Snævar nur zweimal einbestellt worden waren. Vielleicht mussten sie auch noch einmal aussagen, aber Dóra vermutete, dass es der Polizei zu umständlich war, mit Matthias Englisch zu sprechen, und Snævar musste sich bestimmt noch vom Anblick seines toten Freundes Halldór erholen. Zu große emotionale Beteiligung erschwerte oft eine Zeugenaussage.
Dóra folgte dem Polizisten durch einen Büroflur, der nicht mit der Absicht eingerichtet war, das Auge des Betrachters zu erfreuen. Es handelte sich um denselben Mann, mit dem sie bereits über ihren Fall gesprochen hatte, aber jetzt war sie Zeugin bei der Ermittlung eines brutalen Mordes. Der Polizist wirkte abwesend und erschöpft, der Nikotinkaugummi war einem vagen Zigarettengeruch gewichen. Dóra wusste, dass die Sparmaßnahmen bei der Polizei den Druck auf die Beamten enorm erhöht hatten und ein schwieriger, zeitaufwendiger Fall wie dieser alles andere als willkommen war.
Der Mann blieb vor der Tür zu einem kleinen Verhörzimmer stehen, das noch ungemütlicher war als der Flur. Dóra setzte sich auf einen harten Stuhl und spürte, wie verspannt ihr Rücken war. Es war stickig im Raum. Sie öffnete den obersten Knopf ihres Mantels und lockerte den Kragen ein wenig, damit sie seine Fragen nicht mit feuerrotem Kopf beantworten musste.
»Gibt’s was Neues?«, fragte sie.
»Ja und nein.« Der Mann verzog keine Miene, legte eine Mappe auf den Tisch und nahm Platz. »Wir haben endlich die DNA-Ergebnisse. Wegen des Erbrochenen hat sich alles verzögert, das können Sie sich ja vorstellen.«
»Allerdings!«, entgegnete Dóra prompt und wollte ihm schon von ihrem Erlebnis mit dem Kopierer erzählen, hielt sich aber zurück und errötete, weil sie überhaupt daran gedacht hatte. »Ist jetzt bestätigt, dass es sich um Halldórs Leiche handelt? Snævar war zwar davon überzeugt, aber bei dem Zustand des Toten konnte man das nicht mit Sicherheit sagen.«
In der Zwischenzeit waren Fotos von der Mannschaft und den Passagieren in der Zeitung erschienen. Ihre schwarz-weißen Gesichter hatten Dóra am Morgen angestarrt, als sie bei Toast und Tee die Zeitung durchgeblättert hatte. Sie kannte zwar Bilder von Ægir und seiner Familie, aber die drei anderen Männer sah sie zum ersten Mal. Der Kapitän war Witwer und hinterließ drei erwachsene Kinder, die beiden anderen waren unverheiratet und kinderlos, hinterließen aber Eltern und Geschwister. Das Foto von Halldór hatte Dóra nichts gesagt.
»Ja, das wurde bestätigt.« Der Polizist blätterte in der Mappe. »Daran besteht kein Zweifel«, sagte er und warf Dóra einen Blick zu. Seine Augen waren von einem intensiven Grün, als trage er gefärbte Kontaktlinsen. Was allerdings überhaupt nicht seinem Typ entsprechen würde.
»Wir wissen jetzt auch die Todesursache, wobei das Ergebnis der Obduktion den Fall nur noch komplizierter macht. Der Mann ist nämlich ertrunken, wie auch immer er es geschafft hat, außen am Boot zu landen. Ich wollte Sie zu Ihrer Meinung darüber fragen.«
Dóra hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass Halldór an den Folgen eines Unfalls gestorben war. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass er ermordet worden war und dass die Obduktion Stichwunden oder Schlagverletzungen ans Licht bringen würde. Aber ertrunken? Wobei sie sich die Leiche nicht genauer angeschaut hatte, nur so lange, wie ihr Gehirn gebraucht hatte, um den ekelerregenden Anblick des Kopfes zu verarbeiten. Dann hatte sie sich abgewandt, um das zu vollenden, was Snævar begonnen
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