Todesschlaf - Thriller
sie sich in dem Lehnstuhl, den sie in Beschlag genommen hatte, zurücksinken, legte das eine Bein über das andere Knie und nickte.
»Du hast Recht. Das ist merkwürdig.«
Timmie, die gerade einen Müllsack vollstopfte, hob den Blick. »Du erkennst sie also wieder?«
Barb blinzelte. »Wiedererkennen? Wen denn?«
Timmies Hoffnung schwand. »Die Restcrest-Patienten, die in der Notaufnahme gestorben sind. Seitdem diese neue Regelung gilt, dass alle schwer kranken Restcrest-Patienten
in die Notaufnahme verlegt werden, wird die Sterberate von Restcrest verfälscht. Auf der Liste sieht es so aus, als würde sie sinken, aber in Wirklichkeit steigt sie an.«
»Ach so, das«, entgegnete Barb. »Na klar. Das habe ich gemerkt.« Sie blätterte noch einmal und deutete auf verschiedene Linien. »Aber was mich stört, ist, dass bei fast allen als Todesursache ›Herzversagen‹ angegeben wird.«
Timmie ließ alles stehen und liegen. »Was?«
Jetzt war Murphy derjenige, der verwirrt dreinschaute. Er hatte sich soeben auf seine wackeligen Beine gestellt und stopfte sich das mit Blut verkrustete Hemd in die Hose. »Ich glaube, ich komme nicht ganz mit. Ich dachte immer, Herzversagen sei tatsächlich eine Todesursache.«
»Aber selbstverständlich«, gab Barb ärgerlich zurück. »Wenn man es genau nimmt, dann stirbt praktisch jeder an Herzversagen. Das Herz hört auf zu schlagen und man stirbt.Aber es gibt immer eine Ursache dafür, dass das Herz aufhört zu schlagen, und eigentlich müsste diese Ursache hier vermerkt sein.Verstehen Sie?«
Timmie nahm an, dass Murphy nickte. Sehen konnte sie es nicht. Sie hatte sich bereits über die Ausdrucke gebeugt, wütend über ihr eigenes Versäumnis. »Oh mein Gott«, flüsterte sie, als sie es mit eigenen Augen sah. »Du hast Recht.«
Barb suchte weiter, fuhr mit ihrem dicklichen Finger die Liste entlang. »Siehst du? Hier ist Mr. Cleveland und da Mrs. Salgado.« Sie deutete auf eine Zeile und lächelte seltsam geheimnisvoll. »Und da steht Mr. Stein. Kannst du dich noch an ihn erinnern? Er hat uns immer Kekse vorbeigebracht.«
Timmie schüttelte den Kopf, immer noch zu erschüttert, um irgendetwas anderes machen zu können. »Das habe ich übersehen.«
Zeile für Zeile machte Barbs Finger das Offensichtliche sichtbar, umrahmt von Herzinfarkten, Herz-Kreislauf-Versagen,
dem plötzlichen Kindstod und zahlreichen schweren Verletzungen durch Verkehrsunfälle.
Herzversagen
Herzversagen
Herzversagen
Mindestens fünfzehn Fälle. Und sie waren niemandem aufgefallen: Weder dem Krankenhaus noch dem Leichenbeschauer noch dem Arzt, der das Herz und die Seele der fortschrittlichsten Alzheimer-Einrichtung des ganzen Landes war.
»Sie haben alle in Restcrest gewohnt?«, wollte Timmie wissen.
Barb nickte. »Ich habe sie fast alle gekannt.«
Jetzt riskierte sogar Murphy einen Blick. »Haben Sie bei dieser großen Anzahl keinen Verdacht geschöpft?«
»Warum sollten wir?«, erwiderte Barb. »Das waren alte Leute. Alte Menschen sterben früher oder später, verstehen Sie?«
Und das war der Satz, der Timmie den größten Schmerz bereitete. Den Schmerz einer lächerlichen, selbstgefälligen Selbsttäuschung. »Darum sind sie so leicht zu ermorden«, gestand sie ein und verspürte urplötzlich das dringende Bedürfnis loszuheulen. »Das war eines der ersten Dinge, die ich bei der Kriminaltechnik gelernt habe. Alte Menschen sind die einfachsten Mordopfer, weil sich niemand ernsthaft über ihren Tod wundert.«
»Vor allem, wenn es sich um Menschen mit Alzheimer handelt«, ergänzte Barb.
Ermordet. Sie waren tatsächlich ermordet worden. Vielleicht nicht alle. Wahrscheinlich nicht alle. Sie waren schließlich allesamt über sechzig gewesen, manche sogar über neunzig, dazu gebrechlich und sehr krank.
Aber immer noch genug. Genug jedenfalls, dass Timmie, die Sonderinspektorin der Gerichtsmedizin, die Forensik-Fee, zumindest hätte stutzig werden müssen. Stattdessen hatte sie sie in Tücher gehüllt und zur Tür hinausgeschoben und erst dann angefangen, stutzig zu werden, nachdem der Leichenbeschauer sich als Arschloch entpuppt hatte.
Und jetzt ließ sich das nur noch dadurch beheben, dass sie mindestens zehn Stunden lang bis zu den Hüften durch die umherstreunenden, murmelnden, verirrten Phantome aus den Alpträumen jedes denkenden Menschen waten musste. Sie würde in Restcrest ihre Stunden abarbeiten. Und dann musste sie ihrem Vater gegenübertreten und ihm gestehen, dass er nur dadurch,
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