Todesschrei
liegenlassen hatte. Das Buch war auf der Seite mit dem
Schrei
aufgeschlagen, und Sophie beobachtete ihn.
»Ich wollte nicht spionieren, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass das Buch etwas mit deinem Fall zu tun hat. Ich wollte mich eigentlich bloß ablenken, aber ... na, jedenfalls war die Seite markiert. Es hat was mit diesen Schreien zu tun, nicht wahr?«
Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen. Er hatte wie ein Baby geschlafen, während sie die Erinnerung an die entsetzlichen Schreie vom Anrufbeantworter wach gehalten hatte. »Ja, wir denken schon. Es tut mir sehr leid, Sophie. Es ist schlimm, dass du das gehört hast. Oder die Toten gesehen hast.«
»Ja. Aber es ist nun einmal passiert«, sagte sie ruhig. »Und ich werde schon damit fertig.«
Er setzte sich neben sie, legte ihr einen Arm um die Schulter und war froh, als sie sich an ihn schmiegte. So saßen sie schweigend da und sahen den Film, der im Fernsehen lief. Er war in Französisch und sie sah ihn ohne englische Untertitel, so dass er nach einer Weile das Interesse verlor und an dem Becher in ihren Händen schnupperte. »Heiße Schokolade?«
»Guter deutscher Kakao«, bestätigte sie. »Familienrezept der Shuberts. Willst du auch einen?«
»Vielleicht später. Ist das einer von den Filmen mit deinem Vater?«
»En Garde.
Nicht annähernd so gut wie
Sanfter Regen,
den du mal gesehen hast.« Sie lächelte traurig. »Alex war kein großartiger Schauspieler, aber er ist in diesem Film hier ziemlich viel zu sehen. Es ist ein Mantel-und-Degen-Schinken, und er hat in seiner Schulzeit auf Meisterschaften gefochten. Da ist er.«
Alexandre Arnaud marschierte mit dem Schwert in der Hand über den Bildschirm. Er war groß, mit goldblondem Haar, und Vito erkannte die Familienähnlichkeit sofort. »Und heute Abend musstest du ihn sehen.« »Tja, ich sagte ja schon, dass ich nicht schwer zu durchschauen bin. Ich bin nicht gerne allein in diesem Haus. Wenn du nicht mitgekommen wärst, säße ich jetzt bei meinem Onkel Harry und würde Filme mit Bette Davis sehen.«
In diesem Haus. Es hatte sich düster angehört, aber sobald sie über ihren Onkel sprach, hörte er die innige Zuneigung heraus. Harry mochte ein Thema sein, mit dem man gut beginnen konnte. »Hast du als Kind hier oder bei deinem Onkel gewohnt?«, fragte er wie beiläufig. Ihr ironischer Blick besagte, dass sie nun
ihn
durchschaut hatte. »Die meiste Zeit hier. Mit Gran. Am Anfang war ich bei Harry und Freya, aber sie hatten vier Kinder, und hier konnte ich ein eigenes Zimmer haben.« »Aber du hast gesagt, du bist hier nicht gern allein.« Sie lehnte sich zurück und bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. »Ist das hier ein Verhör, Detective?« »Nein. Doch, in gewisser Hinsicht. Aber ich finde es netter, wenn du es als schlichte Neugier bezeichnest. Das klingt nicht so offiziell.«
»Okay. Ich war mit meiner Mutter zusammen, bis ich vier war, aber dann hatte sie mich satt und lieferte mich bei Onkel Harry ab. Harry hat mir zum ersten Mal ein echtes Zuhause geboten.«
»Und einen Grund mehr, deine Mutter zu hassen.« Ihre Stimme kühlte sich merklich ab. »O nein. Ich habe viel bessere Gründe, meine Mutter zu hassen, Vito.« Sie wandte den Blick zum Fernseher, aber sie sah nicht wirklich hin. »Anna war im ersten Jahr noch ständig auf Tournee, aber immer wenn sie zu Hause war, verbrachte ich die Zeit mit ihr in Pittsburgh. Wenn nicht, war ich bei Harry. Als ich in den Kindergarten kam, verkaufte Gran das Haus in Pittsburgh und zog her, damit ich nicht dauernd hin und her reisen musste.«
Das Bild einer kleinen Sophie, die von einem zum anderen gereicht wurde, tat ihm weh. »Wollte Freya dich nicht?«, fragte er, und sie riss die Augen auf.
»Dir entgeht anscheinend wirklich nichts. Freya verabscheute Lena. Und mich in ihrer Nähe zu haben war schwer für sie.«
Wie egoistisch, dachte Vito, sprach es aber nicht aus. »Und was war mit deinem Vater? Alex?«
»Alex wusste lange Zeit gar nichts von mir.«
»Anna hat es ihm nicht gesagt?«
»Sie hatte weniger als ein Jahr vor meiner Geburt mit ihm Schluss gemacht und immer noch Liebeskummer gehabt, laut Maurice. Laut Onkel Harry dagegen hatte sie entsetzliche Angst, dass mein Vater mich wegholen würde.« »Und wann hast du ihn kennengelernt?«
»Ich habe ständig Fragen gestellt, aber niemand wollte über meinen Vater reden, also habe ich mich eines Tages in den Bus gesetzt, bin zum Amt gefahren und habe nach meiner Geburtsurkunde
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