Todesschrei
Seine Lippen zuckten. »Wir fahren in den tiefen dunklen Wald. Und besuchen die Großmutter.« Sie sah ihn mit verengten Augen an. »Wieso habe ich plötzlich das dumpfe Gefühl, ich habe es hier mit einem großen, bösen Wolf zu tun?« Er grinste. »Kuchen und Wein dabei?« Sie verpasste ihm einen Klaps und lachte. »Fahr einfach.« Den Rest der Fahrt über plauderten sie über belanglose Dinge und mieden ernste Themen wie Lena, Simon und ihre Beziehung. Als sie das Pflegeheim erreicht hatten, half er ihr aus dem Truck und holte eine große Einkaufstüte vom Rücksitz. »Was ist denn das?«
Er versteckte die Tüte hinter seinem Rücken. »Kuchen und Wein für die Großmutter.«
Sie versuchte, das Lächeln zu unterdrücken, als sie eintraten. »Ach, bin ich jetzt plötzlich der große, böse Wolf?« Er blickte geradeaus. »Und wenn du magst, darfst du gerne mein Haus umblasen.«
Sie kicherte wie ein Teenager. »Du bist verdorben, Vito Ciccotelli. Durch und durch verdorben.«
Er verpasste ihr einen schmatzenden Kuss auf die Lippen, als sie vor Annas Tür stehen blieben. »Hab' ich schon mal gehört.«
Ihre Großmutter beobachtete sie vom Bett aus mit Adleraugen, und Sophie hatte den Verdacht, dass Vito sie genau deshalb direkt vor der Tür geküsst hatte. Anna sah gut aus, fand Sophie, als sie sie auf die Wangen küsste. »Hi, Gran.« »Sophie.« Schwach hob Anna den Arm, um ihr Gesicht zu berühren. »Du hast den jungen Mann wieder mitgebracht.«
Vito setzte sich neben das Bett. »Hallo, Anna.« Auch er küsste ihre Wange. »Sie sehen wunderbar aus heute. Ihre Wangen sind ja richtig rosig.«
Anna lächelte zu ihm auf. »Sie sind ein Schmeichler. Das mag ich.«
Er erwiderte das Lächeln. »Das dachte ich mir.« Er griff in die Tüte, zog eine langstielige Rose heraus und reichte sie ihr mit galanter Geste. »Und ich dachte mir, Sie mögen vielleicht auch Rosen.«
Annas Augen glänzten plötzlich, und Sophie spürte die ihren brennen. »Vito«, murmelte sie.
Vito warf ihr einen Blick zu. »Oh, du hättest auch welche haben können. Aber ich habe ja nur zu hören gekriegt: >Hör auf damit, Vito<, und: >Du bist verdorben, Vito.<« Er schloss Annas Hand um den Stengel. »Ich habe die Dornen entfernen lassen. Können Sie sie riechen?« Anna nickte. »O ja. Es ist lange her, seit ich mich an dem Duft von Rosen erfreut habe.«
Sophie verpasste sich in Gedanken einen Tritt, dass sie nicht selbst daran gedacht hatte, aber Vito war noch nicht fertig. Er zog einen ganzen Rosenstrauß aus der Tüte plus eine schwarze Porzellanvase, die er behutsam auf das Tischchen neben ihrem Bett stellte. In das Porzellan waren kleine Steinchen eingearbeitet, die wie Sterne in der Nacht funkelten und glitzerten. Er steckte die Rosen hinein und arrangierte sie in der Vase.
»Jetzt können Sie sie noch besser riechen«, sagte er und reichte Sophie den Kunststoffkrug vom Nachttisch. »Könntest du bitte Wasser besorgen, Sophie?« »Natürlich.« Aber sie blieb mit dem Krug im Türrahmen stehen. Vito war noch immer nicht fertig. Nun holte er einen kleinen Kassettenrecorder hervor. »Mein Großvater hatte eine stattliche Plattensammlung«, sagte er, und Annas Auge weitete sich. »Sie haben mir Musik mitgebracht?«, flüsterte sie, und Sophie verfluchte Lena. Und sie verfluchte sich, dass sie nicht an Musik gedacht hatte.
»Nicht irgendwelche Musik«, sagte Vito mit einem Lächeln, das Sophie den Atem raubte.
Annas Mund öffnete sich, dann presste sie die Lippen fest zusammen. »Auch ... Orfeo?«, fragte sie und hielt dann den Atem an wie ein Kind, das sich vor einer Absage fürchtete.
»Auch das.« Er drückte die Playtaste, und Sophie erkannte augenblicklich die erste Töne von »Che faro«, der Arie, die Anna weltberühmt gemacht hatte. Und dann erklang Annas reiner Mezzosopran aus den kleinen Lautsprechern, und Anna stieß den Atem aus, schloss die Augen und wurde ganz ruhig, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet. Sophie spürte einen Kloß in der Kehle, als sie sah, wie ihre Großmutter lautlos die Lippen zu der Arie bewegte.
Vito hatte Anna nicht aus den Augen gelassen, und das rührte Sophie umso mehr. Er hatte das nicht getan, um sie zu beeindrucken. Er hatte das getan, um eine alte, kranke Frau zum Lächeln zu bringen.
Aber Anna lächelte nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie versuchte, genug Atem zu holen, um zu singen. Doch ihre Lungen waren angegriffen, und außer einem Krächzen kam nichts
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