Todesschrei
Wenn wir die Vermissten durchhaben, hören wir uns in den Bars im Theaterbezirk um. Das Dumme ist, dass das Gesicht des Opfers schon zu stark verwest ist, um ein Foto rumzeigen zu können.«
»Schicken Sie einen Zeichner ins Leichenschauhaus. Er soll auf die Knochenstruktur schauen und das Beste draus machen.«
Vito kaute düster. »Hab' ich schon versucht. Aber unsere beiden Zeichner haben zu tun, und zwar mit Lebenden. Es wird Tage dauern, bis sie Zeit für Tote haben.« »Verdammte Budgetkürzung«, knurrte Liz. »Können Sie zeichnen?«
Er lachte. »Strichmännchen, ja.« Dann fiel ihm etwas ein. »Aber mein Bruder.«
»Ich dachte, Ihr Bruder ist Seelenklempner.«
»Nein, das ist meine Schwester, Tess. Tino ist Künstler.
Und zwar spezialisiert auf Porträts.«
»Ist er zu haben?«
»Immer wieder, aber sagen Sie das bloß nicht meiner Mutter. Sie hält uns alle für ... sagen wir, grundanständig.« Er hob die Brauen.
Liz lachte. »Keine Angst, ich verrate kein Sterbenswörtchen. Hat Ihr Bruder so etwas schon einmal getan?« »Nein. Aber er wird gern helfen.«
»Dann rufen Sie ihn an. Wenn er einwilligt, bringen Sie ihn her. Übrigens ... Sie sind in letzter Zeit ziemlich gut darin, kostenlose Helfer zu rekrutieren, Chick. Archäologen, Künstler ... «
Vito zwang sich zu einem lässigen Grinsen. »Und was bekomme ich für meine Mühe?«
Liz beugte sich vor, schnappte sich Nicks Chipstüte und warf sie ihm zu. »Wie ich schon sagte - behaupten Sie ja nicht, dass ich Ihnen nichts gönne.«
New York, Montag, 15. Januar, 16.55 Uhr
»Derek, wir müssen reden.«
Derek sah von seinem Bildschirm auf. Tony England stand in der Tür seines Büros, und seine Miene verhieß nichts Gutes. Derek lehnte sich zurück. »Ich habe mich schon gefragt, wann du hier auftauchst. Komm rein. Und mach die Tür zu.«
»Ich bin heute schon mindestens zwanzig Mal auf dem Weg zu dir gewesen. Aber ich war zu wütend.« Tony hob die Schultern. »Und ich bin immer noch wütend.« Derek seufzte. »Was willst du von mir, Tony?« »Sei ein Mann und wehr dich
ein einziges Mal gegen Jager!«,
explodierte er, dann sah er hastig weg. »Es tut mir leid.«
»Das stimmt doch gar nicht. Du bist von Anfang an bei oRo dabei gewesen. Du hast die Kampfszenen der letzten drei Spiele überwacht. Du hast erwartet, eines Tages meinen Platz einzunehmen und nicht plötzlich für einen Newcomer arbeiten zu müssen.«
»Okay, das ist wahr. Derek, du und ich waren ein tolles Team. Sag Jager ein klares Nein.« »Geht nicht.«
Tony schürzte die Lippen. »Weil du Angst hast, dass er dich vor die Tür setzt?« »Nein. Weil er recht hat.« Tony richtete sich kerzengerade auf.
»Was?«
»Er hat recht.« Er deutete auf seinen Laptop. »Ich habe
Enemy Lines
mit allem verglichen, was wir vorher gemacht haben. Dieses Spiel ist atemberaubend. Das, was wir im letzten Projekt gemacht haben, ist daneben bestenfalls Mittelmaß. Wenn Frasier Lewis so etwas kann -« »Also du auch. Du hast dich auch verkauft«, unterbrach Tony ihn tonlos. »Ich hätte nie gedacht, dass du ...« Er hob das Kinn. »Ich steige aus.«
Das hatte Derek erwartet. »Und ich kann es verstehen. Aber du solltest noch einmal darüber schlafen. Wenn du dann deine Meinung änderst, ist es, als hätten wir dieses Gespräch nie geführt. Versprochen.«
»Ich werde meine Meinung nicht ändern. Und ich werde auch nicht für Frasier Lewis arbeiten.«
»Dann sag mir Bescheid, wenn du eine Empfehlung brauchst. Für was auch immer du sie brauchst.«
»Es gab eine Zeit, da hätte es mir viel bedeutet«, sagte Tony verbittert. »Aber jetzt ... versuche ich es lieber auf eigene Faust. Viel Spaß mit dem Geld, Derek, denn wenn Jager dich erst einmal aus dem Projekt gedrängt hat, ist das alles, was du haben wirst.«
Derek starrte zur Tür, die Tony behutsam hinter sich schloss. Tony hatte recht. Jager drängte ihn hinaus. Die Zeichen waren seit Wochen nicht zu übersehen gewesen, aber Derek hatte sie nicht sehen
wollen.
»Derek?«, rief seine Sekretärin durch die Sprechanlage. »Lloyd Webber auf Leitung zwei.«
Er war nicht in der Stimmung, mit weiteren Reportern zu reden. »Kein Kommentar.«
»Das ist kein Reporter. Es ist ein Vater, der mit dir über
Enemy Lines
sprechen will.«
Derek war auch nicht in der Stimmung, mit weiteren zornigen Eltern zu sprechen, die das Spiel grausam und brutal fanden. »Notieren Sie seine Nummer. Ich rufe morgen zurück.«
Montag, 15. Januar, 18.00
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