Todesschrei
»Entschuldige, dass ich dich versetzt habe. Ich hatte einen langen Tag.« Sie betrachtete Annas schlafendes Gesicht. »Marco muss ihr ihre Medizin gegeben haben. Jetzt wacht sie heute nicht mehr auf, also kann ich ebenso gut gehen.« »Dann komm, iss dein Sandwich und erzähl mir von deinem langen Tag.«
Von seinem Wagen aus blickte Sophie hinauf zum Pflegeheim, während sie aß. »Gran sagt immer wieder, dass eine Schwester gemein zu ihr ist. Erzählt sie das Freya auch?« »Sie hat es jedenfalls noch nicht erwähnt.« Harry runzelte die Stirn. »Du meinst, Anna wird misshandelt?« »Ich weiß nicht. Ich hasse es, sie nachts hier allein zu lassen.«
»Aber uns bleibt nichts anderes übrig, falls wir nicht eine Privatschwester engagieren, und das ist teuer. Ich habe mich schon erkundigt.«
»Ja, ich auch. Aber ich kann mir kaum dieses Heim leisten, und Alex' Geld wird bald aufgebraucht sein.« Harry presste die Kiefer zusammen. »Du solltest dein Erbe nicht für Anna ausgeben.«
Sie lächelte ihn an. »Warum nicht? Wofür soll ich es denn sonst ausgeben? Harry, alles, was ich besitze, passt in diesen Rucksack.« Sie stieß die Tasche mit der Fußspitze an. »Und das gefällt mir ganz gut so.«
»Ja, das redest du dir jedenfalls ein. Alex hätte besser für dich Vorsorgen müssen.«
»Alex hat ganz gut für mich vorgesorgt.« Harry war immer schon der Meinung gewesen, ihr biologischer Vater hätte mehr tun müssen. »Er hat mein Studium bezahlt, so dass ich auf eigenen Beinen stehen konnte.« Sie zog die Brauen zusammen. »Nicht, dass mir das besonders gut gelingt.
S'il vous plait.«
»Oh, lass mich raten. Du musstest heute wieder Jeanne d'Arc sein.«
»Ja«, erwiderte sie düster. »Und das Einzige, was ich noch weniger ertragen kann, als Joan zu spielen, ist, wenn jemand, den ich kenne, mich dabei sieht.« Es war ihr enorm peinlich gewesen, als Nick und Vito sie in ihrem Kostüm entdeckt hatten. Aber es würde noch peinlicher werden, wenn Vito erfuhr, was für ein Mensch sie wirklich war. Alan würde es sich sicher nicht nehmen lassen, ihn aufzuklären.
»Ich bin sicher, du gibst eine niedliche Joan ab«, sagte Harry. »Aber wer hat dich gesehen?«
»Nur ein Typ. Nichts Wichtiges.« Von wegen nichts Wichtiges. Es war unglaublich gewesen. Sie zuckte die Achseln. »Ich dachte, er sei eine Ratte, aber es hat sich gezeigt, dass er ein netter Kerl ist.«
»Und wo liegt dann das Problem?«, fragte Harry freundlich.
»Das Problem ist, dass er Alan Brewster treffen wird.« Harrys Augen blitzten auf. »Ich hatte gehofft, diesen Namen nie wieder zu hören.«
»Ich auch, glaub mir. Aber leider läuft es nicht immer so, wie man es haben will, richtig? Vito wird nach dem Gespräch mit Alan bestimmt denken, dass ich eine Schlampe bin - und zwar eine Schlampe mit Doppelmoral. Ich habe ihn gestern Abend angeschnauzt, er würde seine Freundin betrügen, die er, wie ich heute erfahren habe, gar nicht hat.« »Wenn er wirklich so ein netter Kerl ist, wie du sagst, dann gibt er nicht viel auf Klatsch.«
»Sollte man meinen, Onkel Harry, aber ich weiß es besser. Männer hören Alan Brewster zu, und ich werde plötzlich zu einer anderen Person. Ich schaffe es einfach nicht, dass die Sache hier vergessen wird.«
Harry sah sie traurig an. »Du willst nach Europa zurück, wenn Anna gestorben ist, nicht wahr?« »Ich weiß noch nicht. Vielleicht. Aber in Philadelphia werde ich wohl kaum bleiben. Obwohl es drüben passiert ist, will ausgerechnet hier niemand die Geschichte Geschichte sein lassen. Am wenigsten Alan und seine Frau. Kein Wunder - ich musste ja die Superheldin spielen und ihr alles gestehen.
Merde.
Superidiotin passt besser.« Sie seufzte ungeduldig. »Beichten tut der Seele
nicht
gut, und es gibt einen verdammt guten Grund, warum die Ehefrau es immer zuletzt weiß.«
»Sophie, das ist das erste Mal, dass du nicht gleich widersprochen hast, als ich erwähnt habe, dass Anna sterben könnte.«
Sophie verharrte. »Entschuldige bitte. Natürlich wird sie nicht -«
»Sophie.« Seine Mahnung war sanft. »Anna hat ein teuflisch gutes, wildes Leben geführt. Fühl dich nicht schuldig, weil auch du langsam glaubst, dass sie nicht ewig da sein wird. Und weil auch du dann ganz froh bist, wieder dein eigenes Leben leben zu können. Du hast sehr viel aufgegeben, um bei ihr zu sein. Sie weiß das zu schätzen. Und ich auch.« Sie schluckte hart. »Wie hätte ich es nicht tun können, Harry?«
»Hättest du nicht.« Er
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